Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritik der Heilkunst.
gehörig an. Deshalb bleiben die Schriften aller großen
Aerzte, welche die Natur zu beobachten verstanden, für im-
mer schätzbar und nützlich, es mögen nun dieselben in irgend
einem Zeitalter gelebt haben und irgend einer Secte zuge-
than gewesen seyn. Und es ist der Triumph der Heilkunst,
wenn Aerzte bey ganz verschiedenen Theorien, doch eine und
dieselbe Heilmethode haben.

§ 90.

Es können nemlich dieselben krankhaften Erscheinungen
auf eine verschiedene Art erklärt und ausgelegt werden, je
nachdem die Vorstellungsart von der Natur, und von der
menschlichen Natur insonderheit, verschieden ist *).

*) Stahl de dissensu medicorum. Halae 703. 4.
Heyland de discrepantibus medicorum potiffimum praesen-
sentis seculi, sententiis theoretico-practicis. Lips.
728. 4.
§ 91.

Vorzüglich wurde diese Abweichung dadurch veranlaßt,
daß man von der Beobachtung einzelner Erscheinungen, so-
gleich zu Aufsuchung ihres letzten Grundes übergieng, über
welchen man vermöge der Grenzen unsers Erkenntnißvermö-
gens, nie einig werden konnte.

§ 92.

Je mehr man bey Auslegung der Natur, sich an die
Mittelglieder (zwischen den sinnlichen Erscheinungen und ih-
ren letzten Gründen) hält, d. h. durch Induction und Ana-
logie aus den beobachteten Erscheinungen die Gesetze kennen
lernt, nach welchen die Naturkräfte würken, um desto ei-
niger mit sich selbst wird die Heilkunst, um desto weniger
finden sich Widersprüche in ihr.


§ 93.

Kritik der Heilkunſt.
gehoͤrig an. Deshalb bleiben die Schriften aller großen
Aerzte, welche die Natur zu beobachten verſtanden, fuͤr im-
mer ſchaͤtzbar und nuͤtzlich, es moͤgen nun dieſelben in irgend
einem Zeitalter gelebt haben und irgend einer Secte zuge-
than geweſen ſeyn. Und es iſt der Triumph der Heilkunſt,
wenn Aerzte bey ganz verſchiedenen Theorien, doch eine und
dieſelbe Heilmethode haben.

§ 90.

Es koͤnnen nemlich dieſelben krankhaften Erſcheinungen
auf eine verſchiedene Art erklaͤrt und ausgelegt werden, je
nachdem die Vorſtellungsart von der Natur, und von der
menſchlichen Natur inſonderheit, verſchieden iſt *).

*) Stahl de diſſenſu medicorum. Halæ 703. 4.
Heyland de discrepantibus medicorum potiffimum præſen-
ſentis ſeculi, ſententiis theoretico-practicis. Lips.
728. 4.
§ 91.

Vorzuͤglich wurde dieſe Abweichung dadurch veranlaßt,
daß man von der Beobachtung einzelner Erſcheinungen, ſo-
gleich zu Aufſuchung ihres letzten Grundes uͤbergieng, uͤber
welchen man vermoͤge der Grenzen unſers Erkenntnißvermoͤ-
gens, nie einig werden konnte.

§ 92.

Je mehr man bey Auslegung der Natur, ſich an die
Mittelglieder (zwiſchen den ſinnlichen Erſcheinungen und ih-
ren letzten Gruͤnden) haͤlt, d. h. durch Induction und Ana-
logie aus den beobachteten Erſcheinungen die Geſetze kennen
lernt, nach welchen die Naturkraͤfte wuͤrken, um deſto ei-
niger mit ſich ſelbſt wird die Heilkunſt, um deſto weniger
finden ſich Widerſpruͤche in ihr.


§ 93.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="3">
          <div n="4">
            <div n="5">
              <p><pb facs="#f0049" n="31"/><fw place="top" type="header">Kritik der Heilkun&#x017F;t.</fw><lb/>
geho&#x0364;rig an. Deshalb bleiben die Schriften aller großen<lb/>
Aerzte, welche die Natur zu beobachten ver&#x017F;tanden, fu&#x0364;r im-<lb/>
mer &#x017F;cha&#x0364;tzbar und nu&#x0364;tzlich, es mo&#x0364;gen nun die&#x017F;elben in irgend<lb/>
einem Zeitalter gelebt haben und irgend einer Secte zuge-<lb/>
than gewe&#x017F;en &#x017F;eyn. Und es i&#x017F;t der Triumph der Heilkun&#x017F;t,<lb/>
wenn Aerzte bey ganz ver&#x017F;chiedenen Theorien, doch eine und<lb/>
die&#x017F;elbe Heilmethode haben.</p>
            </div><lb/>
            <div n="5">
              <head>§ 90.</head><lb/>
              <p>Es ko&#x0364;nnen nemlich die&#x017F;elben krankhaften Er&#x017F;cheinungen<lb/>
auf eine ver&#x017F;chiedene Art erkla&#x0364;rt und ausgelegt werden, je<lb/>
nachdem die Vor&#x017F;tellungsart von der Natur, und von der<lb/>
men&#x017F;chlichen Natur in&#x017F;onderheit, ver&#x017F;chieden i&#x017F;t *).</p><lb/>
              <note place="end" n="*)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Stahl</hi> de di&#x017F;&#x017F;en&#x017F;u medicorum. Halæ</hi> 703. 4.<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Heyland</hi> de discrepantibus medicorum potiffimum præ&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;entis &#x017F;eculi, &#x017F;ententiis theoretico-practicis. Lips.</hi> 728. 4.</note>
            </div><lb/>
            <div n="5">
              <head>§ 91.</head><lb/>
              <p>Vorzu&#x0364;glich wurde die&#x017F;e Abweichung dadurch veranlaßt,<lb/>
daß man von der Beobachtung einzelner Er&#x017F;cheinungen, &#x017F;o-<lb/>
gleich zu Auf&#x017F;uchung ihres letzten Grundes u&#x0364;bergieng, u&#x0364;ber<lb/>
welchen man vermo&#x0364;ge der Grenzen un&#x017F;ers Erkenntnißvermo&#x0364;-<lb/>
gens, nie einig werden konnte.</p>
            </div><lb/>
            <div n="5">
              <head>§ 92.</head><lb/>
              <p>Je mehr man bey Auslegung der Natur, &#x017F;ich an die<lb/>
Mittelglieder (zwi&#x017F;chen den &#x017F;innlichen Er&#x017F;cheinungen und ih-<lb/>
ren letzten Gru&#x0364;nden) ha&#x0364;lt, d. h. durch Induction und Ana-<lb/>
logie aus den beobachteten Er&#x017F;cheinungen die Ge&#x017F;etze kennen<lb/>
lernt, nach welchen die Naturkra&#x0364;fte wu&#x0364;rken, um de&#x017F;to ei-<lb/>
niger mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t wird die Heilkun&#x017F;t, um de&#x017F;to weniger<lb/>
finden &#x017F;ich Wider&#x017F;pru&#x0364;che in ihr.</p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">§ 93.</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0049] Kritik der Heilkunſt. gehoͤrig an. Deshalb bleiben die Schriften aller großen Aerzte, welche die Natur zu beobachten verſtanden, fuͤr im- mer ſchaͤtzbar und nuͤtzlich, es moͤgen nun dieſelben in irgend einem Zeitalter gelebt haben und irgend einer Secte zuge- than geweſen ſeyn. Und es iſt der Triumph der Heilkunſt, wenn Aerzte bey ganz verſchiedenen Theorien, doch eine und dieſelbe Heilmethode haben. § 90. Es koͤnnen nemlich dieſelben krankhaften Erſcheinungen auf eine verſchiedene Art erklaͤrt und ausgelegt werden, je nachdem die Vorſtellungsart von der Natur, und von der menſchlichen Natur inſonderheit, verſchieden iſt *). *⁾ Stahl de diſſenſu medicorum. Halæ 703. 4. Heyland de discrepantibus medicorum potiffimum præſen- ſentis ſeculi, ſententiis theoretico-practicis. Lips. 728. 4. § 91. Vorzuͤglich wurde dieſe Abweichung dadurch veranlaßt, daß man von der Beobachtung einzelner Erſcheinungen, ſo- gleich zu Aufſuchung ihres letzten Grundes uͤbergieng, uͤber welchen man vermoͤge der Grenzen unſers Erkenntnißvermoͤ- gens, nie einig werden konnte. § 92. Je mehr man bey Auslegung der Natur, ſich an die Mittelglieder (zwiſchen den ſinnlichen Erſcheinungen und ih- ren letzten Gruͤnden) haͤlt, d. h. durch Induction und Ana- logie aus den beobachteten Erſcheinungen die Geſetze kennen lernt, nach welchen die Naturkraͤfte wuͤrken, um deſto ei- niger mit ſich ſelbſt wird die Heilkunſt, um deſto weniger finden ſich Widerſpruͤche in ihr. § 93.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/49
Zitationshilfe: Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/49>, abgerufen am 21.11.2024.