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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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Substrat für lächerliche Einfälle, Episoden, Tendenzaus-4. Abschnitt.
brüche (worunter sehr schöne, z. B. der Schluß von Cap. VI.)
und Zoten. Neben alledem ist endlich noch ein gewisser
Spott auf Ariosto nicht zu verkennen, und es war wohl
für den Orlando furioso ein Glück, daß der Orlandino
mit seinen lutherischen Ketzereien ziemlich bald der Inquisition
und der künstlichen Vergessenheit anheim fiel. Eine kennt-
liche Parodie scheint z. B. durch, wenn (Cap. VI, Str. 28)
das Haus Gonzaga von dem Paladin Guidone abgeleitet
wird, sintemal von Orlando die Colonnesen, von Rinaldo
die Orsinen und von Ruggieri -- laut Ariost -- die
Estenser abstammen sollten. Vielleicht war Ferrante Gon-
zaga, der Patron des Dichters, dieser Anzüglichkeit gegen
das Haus Este nicht fremd.

Daß endlich in der Gerusalemme liberata des Tor-Torq. Tasso.
quato Tasso die Characteristik eine der höchsten Angelegen-
heiten des Dichters ist, beweist allein schon, wie weit seine
Denkweise von der um ein halbes Jahrhundert früher
herrschenden abweicht. Sein bewundernswürdiges Werk ist
wesentlich ein Denkmal der inzwischen vollzogenen Gegen-
reformation und ihrer Tendenz.


Außerhalb des Gebietes der Poesie haben die Italiener
zuerst von allen Europäern den historischen Menschen nach
seinen äußern und innern Zügen und Eigenschaften genau
zu schildern eine durchgehende Neigung und Begabung
gehabt.

Allerdings zeigt schon das frühere Mittelalter bemer-Biographik des
Mittelalters,

kenswerthe Versuche dieser Art, und die Legende mußte als
eine stehende Aufgabe der Biographie das Interesse und
das Geschick für individuelle Schilderung wenigstens bis zu
einem gewissen Grade aufrecht halten. In den Kloster-
und Domstiftsannalen werden manche Hierarchen, wie z. B.
Meinwerk von Paderborn, Godehard von Hildesheim etc.

Subſtrat für lächerliche Einfälle, Epiſoden, Tendenzaus-4. Abſchnitt.
brüche (worunter ſehr ſchöne, z. B. der Schluß von Cap. VI.)
und Zoten. Neben alledem iſt endlich noch ein gewiſſer
Spott auf Arioſto nicht zu verkennen, und es war wohl
für den Orlando furioſo ein Glück, daß der Orlandino
mit ſeinen lutheriſchen Ketzereien ziemlich bald der Inquiſition
und der künſtlichen Vergeſſenheit anheim fiel. Eine kennt-
liche Parodie ſcheint z. B. durch, wenn (Cap. VI, Str. 28)
das Haus Gonzaga von dem Paladin Guidone abgeleitet
wird, ſintemal von Orlando die Colonneſen, von Rinaldo
die Orſinen und von Ruggieri — laut Arioſt — die
Eſtenſer abſtammen ſollten. Vielleicht war Ferrante Gon-
zaga, der Patron des Dichters, dieſer Anzüglichkeit gegen
das Haus Eſte nicht fremd.

Daß endlich in der Geruſalemme liberata des Tor-Torq. Taſſo.
quato Taſſo die Characteriſtik eine der höchſten Angelegen-
heiten des Dichters iſt, beweist allein ſchon, wie weit ſeine
Denkweiſe von der um ein halbes Jahrhundert früher
herrſchenden abweicht. Sein bewundernswürdiges Werk iſt
weſentlich ein Denkmal der inzwiſchen vollzogenen Gegen-
reformation und ihrer Tendenz.


Außerhalb des Gebietes der Poeſie haben die Italiener
zuerſt von allen Europäern den hiſtoriſchen Menſchen nach
ſeinen äußern und innern Zügen und Eigenſchaften genau
zu ſchildern eine durchgehende Neigung und Begabung
gehabt.

Allerdings zeigt ſchon das frühere Mittelalter bemer-Biographik des
Mittelalters,

kenswerthe Verſuche dieſer Art, und die Legende mußte als
eine ſtehende Aufgabe der Biographie das Intereſſe und
das Geſchick für individuelle Schilderung wenigſtens bis zu
einem gewiſſen Grade aufrecht halten. In den Kloſter-
und Domſtiftsannalen werden manche Hierarchen, wie z. B.
Meinwerk von Paderborn, Godehard von Hildesheim ꝛc.

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[327/0337] Subſtrat für lächerliche Einfälle, Epiſoden, Tendenzaus- brüche (worunter ſehr ſchöne, z. B. der Schluß von Cap. VI.) und Zoten. Neben alledem iſt endlich noch ein gewiſſer Spott auf Arioſto nicht zu verkennen, und es war wohl für den Orlando furioſo ein Glück, daß der Orlandino mit ſeinen lutheriſchen Ketzereien ziemlich bald der Inquiſition und der künſtlichen Vergeſſenheit anheim fiel. Eine kennt- liche Parodie ſcheint z. B. durch, wenn (Cap. VI, Str. 28) das Haus Gonzaga von dem Paladin Guidone abgeleitet wird, ſintemal von Orlando die Colonneſen, von Rinaldo die Orſinen und von Ruggieri — laut Arioſt — die Eſtenſer abſtammen ſollten. Vielleicht war Ferrante Gon- zaga, der Patron des Dichters, dieſer Anzüglichkeit gegen das Haus Eſte nicht fremd. 4. Abſchnitt. Daß endlich in der Geruſalemme liberata des Tor- quato Taſſo die Characteriſtik eine der höchſten Angelegen- heiten des Dichters iſt, beweist allein ſchon, wie weit ſeine Denkweiſe von der um ein halbes Jahrhundert früher herrſchenden abweicht. Sein bewundernswürdiges Werk iſt weſentlich ein Denkmal der inzwiſchen vollzogenen Gegen- reformation und ihrer Tendenz. Torq. Taſſo. Außerhalb des Gebietes der Poeſie haben die Italiener zuerſt von allen Europäern den hiſtoriſchen Menſchen nach ſeinen äußern und innern Zügen und Eigenſchaften genau zu ſchildern eine durchgehende Neigung und Begabung gehabt. Allerdings zeigt ſchon das frühere Mittelalter bemer- kenswerthe Verſuche dieſer Art, und die Legende mußte als eine ſtehende Aufgabe der Biographie das Intereſſe und das Geſchick für individuelle Schilderung wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade aufrecht halten. In den Kloſter- und Domſtiftsannalen werden manche Hierarchen, wie z. B. Meinwerk von Paderborn, Godehard von Hildesheim ꝛc. Biographik des Mittelalters,

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/337>, abgerufen am 26.04.2024.