Es glaubt der Mensch, er liebe sich. Allein er liebt sich in der That nicht so, wie er es selbst vermeynet. Es läßt, ob unterscheid' er sich von sich zuweilen, und es scheinet, Ob sey er stets derselbe nicht. Es hasset oft sein heutigs Jch Sein gestriges. Jch irrte mich, Giebt er noch wohl von gestern zu; Heut aber liebt er sich so sehr, Daß, wenn auch du Jhn noch so deutlich überführtest, verachtet er doch deine Lehr, Er giebt nicht nach, er weichet nicht. Sein heutigs Jch kann nicht vertragen, Daß man ihn eines Fehlers zeiht; viel minder wird ers selber sagen, Wie er vom gestrigen doch noch zuweilen selbst thut, oder leidet, So daß er sich fast alle Tage, von den verfloßnen, unter- scheidet.
Allein, bedenke, lieber Mensch, der heute sich so heftig streubet, Daß dein, dem Schein nach, festes Heute gewiß nicht immer heute bleibet.
Als
Unordentliche Selbſt-Liebe.
Es glaubt der Menſch, er liebe ſich. Allein er liebt ſich in der That nicht ſo, wie er es ſelbſt vermeynet. Es laͤßt, ob unterſcheid’ er ſich von ſich zuweilen, und es ſcheinet, Ob ſey er ſtets derſelbe nicht. Es haſſet oft ſein heutigs Jch Sein geſtriges. Jch irrte mich, Giebt er noch wohl von geſtern zu; Heut aber liebt er ſich ſo ſehr, Daß, wenn auch du Jhn noch ſo deutlich uͤberfuͤhrteſt, verachtet er doch deine Lehr, Er giebt nicht nach, er weichet nicht. Sein heutigs Jch kann nicht vertragen, Daß man ihn eines Fehlers zeiht; viel minder wird ers ſelber ſagen, Wie er vom geſtrigen doch noch zuweilen ſelbſt thut, oder leidet, So daß er ſich faſt alle Tage, von den verfloßnen, unter- ſcheidet.
Allein, bedenke, lieber Menſch, der heute ſich ſo heftig ſtreubet, Daß dein, dem Schein nach, feſtes Heute gewiß nicht immer heute bleibet.
Als
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Unordentliche Selbſt-Liebe.
Es glaubt der Menſch, er liebe ſich.
Allein er liebt ſich in der That nicht ſo, wie er es
ſelbſt vermeynet.
Es laͤßt, ob unterſcheid’ er ſich von ſich zuweilen, und es
ſcheinet,
Ob ſey er ſtets derſelbe nicht. Es haſſet oft ſein heutigs
Jch
Sein geſtriges. Jch irrte mich,
Giebt er noch wohl von geſtern zu;
Heut aber liebt er ſich ſo ſehr,
Daß, wenn auch du
Jhn noch ſo deutlich uͤberfuͤhrteſt, verachtet er doch deine
Lehr,
Er giebt nicht nach, er weichet nicht. Sein heutigs Jch
kann nicht vertragen,
Daß man ihn eines Fehlers zeiht; viel minder wird ers
ſelber ſagen,
Wie er vom geſtrigen doch noch zuweilen ſelbſt thut, oder
leidet,
So daß er ſich faſt alle Tage, von den verfloßnen, unter-
ſcheidet.
Allein, bedenke, lieber Menſch, der heute ſich ſo heftig
ſtreubet,
Daß dein, dem Schein nach, feſtes Heute gewiß nicht
immer heute bleibet.
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/617>, abgerufen am 03.12.2024.
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