Jch sahe jüngst ein weinend Kind, das halb im Grase lag, halb saß, Das, mit geschwollnen Augenliedern, mit Wangen, ganz von Zähren naß, Mit Fingern seine Augen rieb, verdrießlich und erbärmlich flennte, So daß man sein Geschrey kaum dulden, es aber auch nicht schweigen könnte. Jch hörte, wie ich es, warum es so erbärmlich weinte, fragte, Daß es mir, mit verzognen Lippen, und heiserm Ton, zur Antwort sagte: "Jch wollte starr die Sonne sehn, "Daher ist mir so weh geschehn.
Nachdem wir es nun aus der Sonnen, und in den nah gelegnen Schatten Gesetzet, und es allgemach, mit vieler Müh', beschwichtigt hatten; Erwegt' ich dieses Kindes Thun, mit einem ernsten Ueber- legen. Jch fand in ihm ein lehrend Beyspiel, und ein Erinnrung- volles Bild, Mit einem überzeugenden Beweis, zumahl für die, erfüllt, Die, wie dieß Kind es mit der Sonnen, mit GOtt es selbst zu machen pflegen, Da sie nicht GOtt in Seinen Werken, worinn sie Jhn doch sehen sollen, Nein, mit Verachtung dieses Weges, Sein Wesen Selber sehen wollen.
Die
Gefaͤhrlicher Abweg der Vernunft.
Jch ſahe juͤngſt ein weinend Kind, das halb im Graſe lag, halb ſaß, Das, mit geſchwollnen Augenliedern, mit Wangen, ganz von Zaͤhren naß, Mit Fingern ſeine Augen rieb, verdrießlich und erbaͤrmlich flennte, So daß man ſein Geſchrey kaum dulden, es aber auch nicht ſchweigen koͤnnte. Jch hoͤrte, wie ich es, warum es ſo erbaͤrmlich weinte, fragte, Daß es mir, mit verzognen Lippen, und heiſerm Ton, zur Antwort ſagte: “Jch wollte ſtarr die Sonne ſehn, „Daher iſt mir ſo weh geſchehn.
Nachdem wir es nun aus der Sonnen, und in den nah gelegnen Schatten Geſetzet, und es allgemach, mit vieler Muͤh’, beſchwichtigt hatten; Erwegt’ ich dieſes Kindes Thun, mit einem ernſten Ueber- legen. Jch fand in ihm ein lehrend Beyſpiel, und ein Erinnrung- volles Bild, Mit einem uͤberzeugenden Beweis, zumahl fuͤr die, erfuͤllt, Die, wie dieß Kind es mit der Sonnen, mit GOtt es ſelbſt zu machen pflegen, Da ſie nicht GOtt in Seinen Werken, worinn ſie Jhn doch ſehen ſollen, Nein, mit Verachtung dieſes Weges, Sein Weſen Selber ſehen wollen.
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Gefaͤhrlicher Abweg der Vernunft.
Jch ſahe juͤngſt ein weinend Kind, das halb im Graſe
lag, halb ſaß,
Das, mit geſchwollnen Augenliedern, mit Wangen, ganz
von Zaͤhren naß,
Mit Fingern ſeine Augen rieb, verdrießlich und erbaͤrmlich
flennte,
So daß man ſein Geſchrey kaum dulden, es aber auch nicht
ſchweigen koͤnnte.
Jch hoͤrte, wie ich es, warum es ſo erbaͤrmlich weinte, fragte,
Daß es mir, mit verzognen Lippen, und heiſerm Ton, zur
Antwort ſagte:
“Jch wollte ſtarr die Sonne ſehn,
„Daher iſt mir ſo weh geſchehn.
Nachdem wir es nun aus der Sonnen, und in den
nah gelegnen Schatten
Geſetzet, und es allgemach, mit vieler Muͤh’, beſchwichtigt
hatten;
Erwegt’ ich dieſes Kindes Thun, mit einem ernſten Ueber-
legen.
Jch fand in ihm ein lehrend Beyſpiel, und ein Erinnrung-
volles Bild,
Mit einem uͤberzeugenden Beweis, zumahl fuͤr die, erfuͤllt,
Die, wie dieß Kind es mit der Sonnen, mit GOtt es ſelbſt
zu machen pflegen,
Da ſie nicht GOtt in Seinen Werken, worinn ſie Jhn doch
ſehen ſollen,
Nein, mit Verachtung dieſes Weges, Sein Weſen Selber
ſehen wollen.
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 7. Hamburg, 1743, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen07_1743/690>, abgerufen am 03.12.2024.
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