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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Das Zuckereichhorn oder das fliegende Eichhorn.
stehenden Ohren sind lang, aber stumpfspitzig, die Augen groß und halbkugelförmig vorstehend. Die
Beine sind kurz, die Zehen des Vorderfußes getrennt, die des Hinterfußes durch fast vollständige
Verwachsung der zweiten und dritten Zehe und einen den übrigen Zehen entgegensetzbaren Daumen aus-
gezeichnet. Dieser Daumen ist nagellos; alle übrigen Zehen dagegen sind mit sichelförmig gekrümmten
Krallen versehen. Das Weibchen besitzt einen vollständigen Beutel. Der Pelz ist sehr dicht, außer-
ordentlich fein und weich, die Flatterhaut ist behaart, und nur die Ohren sind auf der Jnnenseite
nackt, auf der Außenseite dagegen wenigstens gegen die Wurzel mit Haaren bedeckt. Die ganze
Oberseite des Leibes ist aschgrau, die Flatterhaut außen dunkelnußbraun und weiß eingefaßt, die
Unterseite ist weiß mit schwachgelblichem Anfluge, gegen den Rand der Flatterhaut hin aber bräunlich.
Ein rostbrauner Streifen zieht sich durch die Augen und verläuft gegen die Ohren hin, ein anderer
Streifen läuft über den Nasenrücken, die Stirn und die Mitteklinie des Rückens. Er ist vorn rost-
braun, auf der Stirn aber lebhaft kastanienbraun. Der Schwanz ist an der Wurzel lichtaschgrau,
an der Spitze aber schwarz. 81/2 Zoll Leibeslänge, 9 Zoll Schwanzlänge und 31/2 Zoll Höhe am
Widerrist sind die wichtigsten Größen des Thieres.

Man findet das Zuckereichhorn hauptsächlich in Neusüdwales, auf Neu-Guinea, Norfolk und
einigen anderen Eilanden. Es ist ein echtes Baumthier und, wie die meisten der ihm ähnlich ge-
stalteten Geschöpfe, bei Nacht lebendig. Den ganzen Tag über verbirgt es sich in den dichtesten
Baumkronen, wo es sich entweder eine Höhlung oder einen Gabelast aussucht und, zu einer Kugel
zusammengerollt und gleichsam in seine Flatterhaut eingewickelt, dem Schlafe hingibt. Mit der Nacht
beginnt seine Thätigkeit. Dann klettert es ganz mit der Gewandtheit eines Eichhorns auf den Bäu-
men umher und zwar immer von unten nach oben; denn von oben nach unten zu springt es mit Hilfe
seiner Flatterhaut, welche es wie einen Fallschirm ausbreitet. Bei Tage erkennt man das Thier, wel-
ches man während der Nacht beobachtete, nicht wieder. Es scheint eher ein lebloses Wesen zu sein,
als der behende Baumbewohner. Mürrisch und lichtscheu schläft es fast den ganzen Tag; nur gelegent-
lich wacht es auf, um Etwas zu fressen; wankend, unsicher bewegt es die Glieder, und ängstlich meidet
es die Strahlen des ihm verhaßten, allbelebenden Lichts. Ganz anders zeigt es sich in einer jener klaren,
zaubervollen Mondnächte seiner Heimat. Das Auge folgt überrascht seinem Treiben. Alle Bewe-
gungen sind jetzt ebenso lebhaft, behend und gewandt, wie die des übermüthigsten Affen, wie die
des erregtesten Eichhorns. Nur auf dem Boden ist es ziemlich tölpisch und schwankt hier unsicheren
Schrittes dahin: aber es betritt die ihm fast feindliche Erde auch nur in der höchsten Noth, blos
dann, wenn die Bäume gar zu weit von einander stehen, so weit, daß nicht einmal seine Flughaut
die Brücke bilden kann. Es ist im Stande, außerordentlich weite Sprünge auszuführen und dabei
die Richtung beliebig zu ändern. Schon wenn es aus einer Höhe von dreißig Fuß abspringen kann, ist
es fähig, einen achtzig bis neunzig Fuß von ihm entfernten Baum zu erreichen. Aber es leistet noch
ganz andere Proben seiner Geschicklichkeit. Am Bord eines an der Küste Neuhollands segelnden
Schiffes befand sich ein Flugbeutler, welcher bereits so gezähmt war, daß man ihm gestatten durfte,
frei auf dem Schiffe herum zu laufen. Das muntere Geschöpf, die Freude der ganzen Schiffsmann-
schaft, war hier so vertraut geworden, daß es bald auf den höchsten Mastspitzen, bald unten im Raum
gesehen werden konnte. Eines Tages kletterte es bei heftigem Wehen nach seinem Lieblingsplatze, der
Mastspitze, empor; aber man besorgte, daß es während eines seiner Sprünge vom Sturme erfaßt
und in das Meer geschleudert werden möchte, und einer der Matrosen entschloß sich, seinen Liebling
da oben herunter zu holen. Als er dem Thiere nahe auf den Leib rückte, suchte sich dieses der ihm
widrigen Gefangennahme zu entziehen und vermittelst eines seiner herrlichen Luftsprünge das Deck
zu erreichen. Jn demselben Augenblicke legte sich das Schiff, von einem heftigen Windstoß erfaßt,
derart auf die Seite, daß aller menschlichen Berechnung nach der Flugbeutler in die Wellen geschleu-
dert werden mußte. Man gab ihn bereits verloren: er aber wußte sich zu helfen. Mit einem Male
änderte er durch eine geschickte Wendung seines vortrefflichen Steuerruders die Richtung seines Fluges
und schoß, in großen Bogen sich drehend, weit aus nach vorn, glücklich das sichere Deck erreichend. Alle

Das Zuckereichhorn oder das fliegende Eichhorn.
ſtehenden Ohren ſind lang, aber ſtumpfſpitzig, die Augen groß und halbkugelförmig vorſtehend. Die
Beine ſind kurz, die Zehen des Vorderfußes getrennt, die des Hinterfußes durch faſt vollſtändige
Verwachſung der zweiten und dritten Zehe und einen den übrigen Zehen entgegenſetzbaren Daumen aus-
gezeichnet. Dieſer Daumen iſt nagellos; alle übrigen Zehen dagegen ſind mit ſichelförmig gekrümmten
Krallen verſehen. Das Weibchen beſitzt einen vollſtändigen Beutel. Der Pelz iſt ſehr dicht, außer-
ordentlich fein und weich, die Flatterhaut iſt behaart, und nur die Ohren ſind auf der Jnnenſeite
nackt, auf der Außenſeite dagegen wenigſtens gegen die Wurzel mit Haaren bedeckt. Die ganze
Oberſeite des Leibes iſt aſchgrau, die Flatterhaut außen dunkelnußbraun und weiß eingefaßt, die
Unterſeite iſt weiß mit ſchwachgelblichem Anfluge, gegen den Rand der Flatterhaut hin aber bräunlich.
Ein roſtbrauner Streifen zieht ſich durch die Augen und verläuft gegen die Ohren hin, ein anderer
Streifen läuft über den Naſenrücken, die Stirn und die Mitteklinie des Rückens. Er iſt vorn roſt-
braun, auf der Stirn aber lebhaft kaſtanienbraun. Der Schwanz iſt an der Wurzel lichtaſchgrau,
an der Spitze aber ſchwarz. 8½ Zoll Leibeslänge, 9 Zoll Schwanzlänge und 3½ Zoll Höhe am
Widerriſt ſind die wichtigſten Größen des Thieres.

Man findet das Zuckereichhorn hauptſächlich in Neuſüdwales, auf Neu-Guinea, Norfolk und
einigen anderen Eilanden. Es iſt ein echtes Baumthier und, wie die meiſten der ihm ähnlich ge-
ſtalteten Geſchöpfe, bei Nacht lebendig. Den ganzen Tag über verbirgt es ſich in den dichteſten
Baumkronen, wo es ſich entweder eine Höhlung oder einen Gabelaſt ausſucht und, zu einer Kugel
zuſammengerollt und gleichſam in ſeine Flatterhaut eingewickelt, dem Schlafe hingibt. Mit der Nacht
beginnt ſeine Thätigkeit. Dann klettert es ganz mit der Gewandtheit eines Eichhorns auf den Bäu-
men umher und zwar immer von unten nach oben; denn von oben nach unten zu ſpringt es mit Hilfe
ſeiner Flatterhaut, welche es wie einen Fallſchirm ausbreitet. Bei Tage erkennt man das Thier, wel-
ches man während der Nacht beobachtete, nicht wieder. Es ſcheint eher ein lebloſes Weſen zu ſein,
als der behende Baumbewohner. Mürriſch und lichtſcheu ſchläft es faſt den ganzen Tag; nur gelegent-
lich wacht es auf, um Etwas zu freſſen; wankend, unſicher bewegt es die Glieder, und ängſtlich meidet
es die Strahlen des ihm verhaßten, allbelebenden Lichts. Ganz anders zeigt es ſich in einer jener klaren,
zaubervollen Mondnächte ſeiner Heimat. Das Auge folgt überraſcht ſeinem Treiben. Alle Bewe-
gungen ſind jetzt ebenſo lebhaft, behend und gewandt, wie die des übermüthigſten Affen, wie die
des erregteſten Eichhorns. Nur auf dem Boden iſt es ziemlich tölpiſch und ſchwankt hier unſicheren
Schrittes dahin: aber es betritt die ihm faſt feindliche Erde auch nur in der höchſten Noth, blos
dann, wenn die Bäume gar zu weit von einander ſtehen, ſo weit, daß nicht einmal ſeine Flughaut
die Brücke bilden kann. Es iſt im Stande, außerordentlich weite Sprünge auszuführen und dabei
die Richtung beliebig zu ändern. Schon wenn es aus einer Höhe von dreißig Fuß abſpringen kann, iſt
es fähig, einen achtzig bis neunzig Fuß von ihm entfernten Baum zu erreichen. Aber es leiſtet noch
ganz andere Proben ſeiner Geſchicklichkeit. Am Bord eines an der Küſte Neuhollands ſegelnden
Schiffes befand ſich ein Flugbeutler, welcher bereits ſo gezähmt war, daß man ihm geſtatten durfte,
frei auf dem Schiffe herum zu laufen. Das muntere Geſchöpf, die Freude der ganzen Schiffsmann-
ſchaft, war hier ſo vertraut geworden, daß es bald auf den höchſten Maſtſpitzen, bald unten im Raum
geſehen werden konnte. Eines Tages kletterte es bei heftigem Wehen nach ſeinem Lieblingsplatze, der
Maſtſpitze, empor; aber man beſorgte, daß es während eines ſeiner Sprünge vom Sturme erfaßt
und in das Meer geſchleudert werden möchte, und einer der Matroſen entſchloß ſich, ſeinen Liebling
da oben herunter zu holen. Als er dem Thiere nahe auf den Leib rückte, ſuchte ſich dieſes der ihm
widrigen Gefangennahme zu entziehen und vermittelſt eines ſeiner herrlichen Luftſprünge das Deck
zu erreichen. Jn demſelben Augenblicke legte ſich das Schiff, von einem heftigen Windſtoß erfaßt,
derart auf die Seite, daß aller menſchlichen Berechnung nach der Flugbeutler in die Wellen geſchleu-
dert werden mußte. Man gab ihn bereits verloren: er aber wußte ſich zu helfen. Mit einem Male
änderte er durch eine geſchickte Wendung ſeines vortrefflichen Steuerruders die Richtung ſeines Fluges
und ſchoß, in großen Bogen ſich drehend, weit aus nach vorn, glücklich das ſichere Deck erreichend. Alle

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[31/0043] Das Zuckereichhorn oder das fliegende Eichhorn. ſtehenden Ohren ſind lang, aber ſtumpfſpitzig, die Augen groß und halbkugelförmig vorſtehend. Die Beine ſind kurz, die Zehen des Vorderfußes getrennt, die des Hinterfußes durch faſt vollſtändige Verwachſung der zweiten und dritten Zehe und einen den übrigen Zehen entgegenſetzbaren Daumen aus- gezeichnet. Dieſer Daumen iſt nagellos; alle übrigen Zehen dagegen ſind mit ſichelförmig gekrümmten Krallen verſehen. Das Weibchen beſitzt einen vollſtändigen Beutel. Der Pelz iſt ſehr dicht, außer- ordentlich fein und weich, die Flatterhaut iſt behaart, und nur die Ohren ſind auf der Jnnenſeite nackt, auf der Außenſeite dagegen wenigſtens gegen die Wurzel mit Haaren bedeckt. Die ganze Oberſeite des Leibes iſt aſchgrau, die Flatterhaut außen dunkelnußbraun und weiß eingefaßt, die Unterſeite iſt weiß mit ſchwachgelblichem Anfluge, gegen den Rand der Flatterhaut hin aber bräunlich. Ein roſtbrauner Streifen zieht ſich durch die Augen und verläuft gegen die Ohren hin, ein anderer Streifen läuft über den Naſenrücken, die Stirn und die Mitteklinie des Rückens. Er iſt vorn roſt- braun, auf der Stirn aber lebhaft kaſtanienbraun. Der Schwanz iſt an der Wurzel lichtaſchgrau, an der Spitze aber ſchwarz. 8½ Zoll Leibeslänge, 9 Zoll Schwanzlänge und 3½ Zoll Höhe am Widerriſt ſind die wichtigſten Größen des Thieres. Man findet das Zuckereichhorn hauptſächlich in Neuſüdwales, auf Neu-Guinea, Norfolk und einigen anderen Eilanden. Es iſt ein echtes Baumthier und, wie die meiſten der ihm ähnlich ge- ſtalteten Geſchöpfe, bei Nacht lebendig. Den ganzen Tag über verbirgt es ſich in den dichteſten Baumkronen, wo es ſich entweder eine Höhlung oder einen Gabelaſt ausſucht und, zu einer Kugel zuſammengerollt und gleichſam in ſeine Flatterhaut eingewickelt, dem Schlafe hingibt. Mit der Nacht beginnt ſeine Thätigkeit. Dann klettert es ganz mit der Gewandtheit eines Eichhorns auf den Bäu- men umher und zwar immer von unten nach oben; denn von oben nach unten zu ſpringt es mit Hilfe ſeiner Flatterhaut, welche es wie einen Fallſchirm ausbreitet. Bei Tage erkennt man das Thier, wel- ches man während der Nacht beobachtete, nicht wieder. Es ſcheint eher ein lebloſes Weſen zu ſein, als der behende Baumbewohner. Mürriſch und lichtſcheu ſchläft es faſt den ganzen Tag; nur gelegent- lich wacht es auf, um Etwas zu freſſen; wankend, unſicher bewegt es die Glieder, und ängſtlich meidet es die Strahlen des ihm verhaßten, allbelebenden Lichts. Ganz anders zeigt es ſich in einer jener klaren, zaubervollen Mondnächte ſeiner Heimat. Das Auge folgt überraſcht ſeinem Treiben. Alle Bewe- gungen ſind jetzt ebenſo lebhaft, behend und gewandt, wie die des übermüthigſten Affen, wie die des erregteſten Eichhorns. Nur auf dem Boden iſt es ziemlich tölpiſch und ſchwankt hier unſicheren Schrittes dahin: aber es betritt die ihm faſt feindliche Erde auch nur in der höchſten Noth, blos dann, wenn die Bäume gar zu weit von einander ſtehen, ſo weit, daß nicht einmal ſeine Flughaut die Brücke bilden kann. Es iſt im Stande, außerordentlich weite Sprünge auszuführen und dabei die Richtung beliebig zu ändern. Schon wenn es aus einer Höhe von dreißig Fuß abſpringen kann, iſt es fähig, einen achtzig bis neunzig Fuß von ihm entfernten Baum zu erreichen. Aber es leiſtet noch ganz andere Proben ſeiner Geſchicklichkeit. Am Bord eines an der Küſte Neuhollands ſegelnden Schiffes befand ſich ein Flugbeutler, welcher bereits ſo gezähmt war, daß man ihm geſtatten durfte, frei auf dem Schiffe herum zu laufen. Das muntere Geſchöpf, die Freude der ganzen Schiffsmann- ſchaft, war hier ſo vertraut geworden, daß es bald auf den höchſten Maſtſpitzen, bald unten im Raum geſehen werden konnte. Eines Tages kletterte es bei heftigem Wehen nach ſeinem Lieblingsplatze, der Maſtſpitze, empor; aber man beſorgte, daß es während eines ſeiner Sprünge vom Sturme erfaßt und in das Meer geſchleudert werden möchte, und einer der Matroſen entſchloß ſich, ſeinen Liebling da oben herunter zu holen. Als er dem Thiere nahe auf den Leib rückte, ſuchte ſich dieſes der ihm widrigen Gefangennahme zu entziehen und vermittelſt eines ſeiner herrlichen Luftſprünge das Deck zu erreichen. Jn demſelben Augenblicke legte ſich das Schiff, von einem heftigen Windſtoß erfaßt, derart auf die Seite, daß aller menſchlichen Berechnung nach der Flugbeutler in die Wellen geſchleu- dert werden mußte. Man gab ihn bereits verloren: er aber wußte ſich zu helfen. Mit einem Male änderte er durch eine geſchickte Wendung ſeines vortrefflichen Steuerruders die Richtung ſeines Fluges und ſchoß, in großen Bogen ſich drehend, weit aus nach vorn, glücklich das ſichere Deck erreichend. Alle

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/43>, abgerufen am 26.04.2024.