§ 62. Mechanisches Bild der chemischen Affinität einwerthiger gleichartiger Atome.
Ich habe früher einmal das Problem der Dissociation der Gase unter gewissen möglichst allgemeinen Voraussetzungen be- handelt, 1) die ich freilich zum Schlusse specialisiren musste. Da es mir hier jedoch mehr um Anschaulichkeit als um Allgemein- heit zu thun ist, so will ich ganz specielle, möglichst einfache Voraussetzungen machen. Man möge das Folgende nicht missver- stehen und etwa meinen, ich sei der Ansicht, dass die chemische Anziehung genau nach den Gesetzen wirkte, wie die im Fol- genden angenommenen Kräfte. Die letzteren sind vielmehr als möglichst einfache und anschauliche Bilder von Kräften anzusehen, welche mit den chemischen Kräften eine gewisse Aehnlichkeit haben und daher im vorliegenden Falle mit einer gewissen Annäherung dafür substituirt werden können.
Ich will zunächst den einfachsten Fall der Dissociation betrachten, als dessen Prototyp die Dissociation des Jod- dampfes dienen kann. Bei nicht allzu hoher Temperatur be- stehen alle Moleküle desselben aus zwei Jodatomen; bei wachsender Temperatur aber zerfallen immer mehr Moleküle in einzelne Atome. Wir erklären die Existenz der aus zwei Atomen zusammengesetzten Moleküle (der Doppelatome) durch eine zwischen den Atomen thätige anziehende Kraft, welche wir die chemische Anziehung nennen. Die Thatsachen der chemischen Valenz oder Werthigkeit machen es wahrschein- lich, dass die chemische Anziehung keineswegs einfach eine Function der Entfernung der Mittelpunkte der Atome ist, dass sie vielmehr bloss an verhältnissmässig kleine Bezirke auf der
1) Sitzungsber. d. Wien. Akad. Bd. 88, 18. Oct. 1883; Bd. 105, S. 701, 1896. Wied. Ann. Bd. 22, S. 39, 1884.
§ 62. Mechanisches Bild der chemischen Affinität einwerthiger gleichartiger Atome.
Ich habe früher einmal das Problem der Dissociation der Gase unter gewissen möglichst allgemeinen Voraussetzungen be- handelt, 1) die ich freilich zum Schlusse specialisiren musste. Da es mir hier jedoch mehr um Anschaulichkeit als um Allgemein- heit zu thun ist, so will ich ganz specielle, möglichst einfache Voraussetzungen machen. Man möge das Folgende nicht missver- stehen und etwa meinen, ich sei der Ansicht, dass die chemische Anziehung genau nach den Gesetzen wirkte, wie die im Fol- genden angenommenen Kräfte. Die letzteren sind vielmehr als möglichst einfache und anschauliche Bilder von Kräften anzusehen, welche mit den chemischen Kräften eine gewisse Aehnlichkeit haben und daher im vorliegenden Falle mit einer gewissen Annäherung dafür substituirt werden können.
Ich will zunächst den einfachsten Fall der Dissociation betrachten, als dessen Prototyp die Dissociation des Jod- dampfes dienen kann. Bei nicht allzu hoher Temperatur be- stehen alle Moleküle desselben aus zwei Jodatomen; bei wachsender Temperatur aber zerfallen immer mehr Moleküle in einzelne Atome. Wir erklären die Existenz der aus zwei Atomen zusammengesetzten Moleküle (der Doppelatome) durch eine zwischen den Atomen thätige anziehende Kraft, welche wir die chemische Anziehung nennen. Die Thatsachen der chemischen Valenz oder Werthigkeit machen es wahrschein- lich, dass die chemische Anziehung keineswegs einfach eine Function der Entfernung der Mittelpunkte der Atome ist, dass sie vielmehr bloss an verhältnissmässig kleine Bezirke auf der
1) Sitzungsber. d. Wien. Akad. Bd. 88, 18. Oct. 1883; Bd. 105, S. 701, 1896. Wied. Ann. Bd. 22, S. 39, 1884.
Boltzmann, Gastheorie II. 12
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[Gleich. 184] § 62. Einwerthige gleichartige Atome.
VI. Abschnitt.
Theorie der Dissociation.
§ 62. Mechanisches Bild der chemischen Affinität
einwerthiger gleichartiger Atome.
Ich habe früher einmal das Problem der Dissociation der
Gase unter gewissen möglichst allgemeinen Voraussetzungen be-
handelt, 1) die ich freilich zum Schlusse specialisiren musste. Da
es mir hier jedoch mehr um Anschaulichkeit als um Allgemein-
heit zu thun ist, so will ich ganz specielle, möglichst einfache
Voraussetzungen machen. Man möge das Folgende nicht missver-
stehen und etwa meinen, ich sei der Ansicht, dass die chemische
Anziehung genau nach den Gesetzen wirkte, wie die im Fol-
genden angenommenen Kräfte. Die letzteren sind vielmehr
als möglichst einfache und anschauliche Bilder von Kräften
anzusehen, welche mit den chemischen Kräften eine gewisse
Aehnlichkeit haben und daher im vorliegenden Falle mit einer
gewissen Annäherung dafür substituirt werden können.
Ich will zunächst den einfachsten Fall der Dissociation
betrachten, als dessen Prototyp die Dissociation des Jod-
dampfes dienen kann. Bei nicht allzu hoher Temperatur be-
stehen alle Moleküle desselben aus zwei Jodatomen; bei
wachsender Temperatur aber zerfallen immer mehr Moleküle
in einzelne Atome. Wir erklären die Existenz der aus zwei
Atomen zusammengesetzten Moleküle (der Doppelatome) durch
eine zwischen den Atomen thätige anziehende Kraft, welche
wir die chemische Anziehung nennen. Die Thatsachen der
chemischen Valenz oder Werthigkeit machen es wahrschein-
lich, dass die chemische Anziehung keineswegs einfach eine
Function der Entfernung der Mittelpunkte der Atome ist, dass
sie vielmehr bloss an verhältnissmässig kleine Bezirke auf der
1) Sitzungsber. d. Wien. Akad. Bd. 88, 18. Oct. 1883; Bd. 105,
S. 701, 1896. Wied. Ann. Bd. 22, S. 39, 1884.
Boltzmann, Gastheorie II. 12
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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/195>, abgerufen am 21.02.2025.
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