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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Natur ringsum. Was trennt dich von dem Blütenstaub, der
durch die Lüfte rinnt, von dem verliebten Kauz, der da oben
in den Kiefern ruft, von all dem Sehnen und Gähren in
Vogel und Wild und Blume und Baum bis zur Muschel in
diesem nebelverhangenen Seegrunde hinab? Sie wie du, du
wie sie.

Armer Thor!

Auch das ist nur eine Täuschung.

Du bist noch Tier. Aber du bist nicht mehr das ganze
Tier. Du bist noch nicht Mensch. Aber auch du gehst ver¬
hüllten Hauptes schon auf der Straße zum Menschen an. Auf
jene blutrote Messersschneide an. Gerade du, der du bloß
leben willst, lebst und liebst nicht mehr wie Baum und Muschel
und Eule dort. Um dich hat sich ein ungeheures Korsett ge¬
wickelt, aus all den Versuchen, Pfadfindereien, Anpassungs¬
experimenten der Stufe zwischen echtem Niedertier und echtem
Höhenmensch.

Auch in deiner Liebe und vor allem da.

Du willst frei lieben in heiliger Sommernacht, ohne Er¬
kenntnis, ohne Gedankenlicht. Und was umkrallt dich wie die
Hydra der Sage? Angst, Sorge, Verschämtheit, Prüderie,
moralische Gewissensbisse aller Art, Millionen Formen, Engungen,
Zweifel. In Schweiß und Qualen liegst du fest. Nicht mehr
Baum und Muschel, -- noch nicht Erkenntnismensch. Leben
willst du in der Liebe, -- und ein dunkles Rot zieht über
dein treues Angesicht. Röte der Scham. Such dir die Muschel
da unten im Nebel, frage das Samenstäubchen der Rainblüte,
das in Sehnsucht auf diesen Walpurgislüften schwebt: ob sie
erröten in ihrem Liebestraum? .....

Eine alte Legende klingt, mit einer erschütternden Wahr¬
heit. Allerdings nur einer Teil-Wahrheit. Die Legende ist ja
auch alt und hatte von den Dingen der Menschheit nur erst
einen Teil. Adam und Eva sind im Paradiese. Nackend, aber
froh. Sie leben und lieben wie Muschel, Blume und Baum.

Natur ringsum. Was trennt dich von dem Blütenſtaub, der
durch die Lüfte rinnt, von dem verliebten Kauz, der da oben
in den Kiefern ruft, von all dem Sehnen und Gähren in
Vogel und Wild und Blume und Baum bis zur Muſchel in
dieſem nebelverhangenen Seegrunde hinab? Sie wie du, du
wie ſie.

Armer Thor!

Auch das iſt nur eine Täuſchung.

Du biſt noch Tier. Aber du biſt nicht mehr das ganze
Tier. Du biſt noch nicht Menſch. Aber auch du gehſt ver¬
hüllten Hauptes ſchon auf der Straße zum Menſchen an. Auf
jene blutrote Meſſersſchneide an. Gerade du, der du bloß
leben willſt, lebſt und liebſt nicht mehr wie Baum und Muſchel
und Eule dort. Um dich hat ſich ein ungeheures Korſett ge¬
wickelt, aus all den Verſuchen, Pfadfindereien, Anpaſſungs¬
experimenten der Stufe zwiſchen echtem Niedertier und echtem
Höhenmenſch.

Auch in deiner Liebe und vor allem da.

Du willſt frei lieben in heiliger Sommernacht, ohne Er¬
kenntnis, ohne Gedankenlicht. Und was umkrallt dich wie die
Hydra der Sage? Angſt, Sorge, Verſchämtheit, Prüderie,
moraliſche Gewiſſensbiſſe aller Art, Millionen Formen, Engungen,
Zweifel. In Schweiß und Qualen liegſt du feſt. Nicht mehr
Baum und Muſchel, — noch nicht Erkenntnismenſch. Leben
willſt du in der Liebe, — und ein dunkles Rot zieht über
dein treues Angeſicht. Röte der Scham. Such dir die Muſchel
da unten im Nebel, frage das Samenſtäubchen der Rainblüte,
das in Sehnſucht auf dieſen Walpurgislüften ſchwebt: ob ſie
erröten in ihrem Liebestraum? .....

Eine alte Legende klingt, mit einer erſchütternden Wahr¬
heit. Allerdings nur einer Teil-Wahrheit. Die Legende iſt ja
auch alt und hatte von den Dingen der Menſchheit nur erſt
einen Teil. Adam und Eva ſind im Paradieſe. Nackend, aber
froh. Sie leben und lieben wie Muſchel, Blume und Baum.

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[5/0021] Natur ringsum. Was trennt dich von dem Blütenſtaub, der durch die Lüfte rinnt, von dem verliebten Kauz, der da oben in den Kiefern ruft, von all dem Sehnen und Gähren in Vogel und Wild und Blume und Baum bis zur Muſchel in dieſem nebelverhangenen Seegrunde hinab? Sie wie du, du wie ſie. Armer Thor! Auch das iſt nur eine Täuſchung. Du biſt noch Tier. Aber du biſt nicht mehr das ganze Tier. Du biſt noch nicht Menſch. Aber auch du gehſt ver¬ hüllten Hauptes ſchon auf der Straße zum Menſchen an. Auf jene blutrote Meſſersſchneide an. Gerade du, der du bloß leben willſt, lebſt und liebſt nicht mehr wie Baum und Muſchel und Eule dort. Um dich hat ſich ein ungeheures Korſett ge¬ wickelt, aus all den Verſuchen, Pfadfindereien, Anpaſſungs¬ experimenten der Stufe zwiſchen echtem Niedertier und echtem Höhenmenſch. Auch in deiner Liebe und vor allem da. Du willſt frei lieben in heiliger Sommernacht, ohne Er¬ kenntnis, ohne Gedankenlicht. Und was umkrallt dich wie die Hydra der Sage? Angſt, Sorge, Verſchämtheit, Prüderie, moraliſche Gewiſſensbiſſe aller Art, Millionen Formen, Engungen, Zweifel. In Schweiß und Qualen liegſt du feſt. Nicht mehr Baum und Muſchel, — noch nicht Erkenntnismenſch. Leben willſt du in der Liebe, — und ein dunkles Rot zieht über dein treues Angeſicht. Röte der Scham. Such dir die Muſchel da unten im Nebel, frage das Samenſtäubchen der Rainblüte, das in Sehnſucht auf dieſen Walpurgislüften ſchwebt: ob ſie erröten in ihrem Liebestraum? ..... Eine alte Legende klingt, mit einer erſchütternden Wahr¬ heit. Allerdings nur einer Teil-Wahrheit. Die Legende iſt ja auch alt und hatte von den Dingen der Menſchheit nur erſt einen Teil. Adam und Eva ſind im Paradieſe. Nackend, aber froh. Sie leben und lieben wie Muſchel, Blume und Baum.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/21>, abgerufen am 26.04.2024.