[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 8. Zürich, 1743.des vierzehnten Jahrhunderts. XX. Der Rabe und der Fuchs. ES saß ein Fuchs mit leerem Magen, Und im Gemüthe gantz zerschlagen, Jm Schatten eines hohen Baums. Auf diesen setzte sich ein Rab in gleicher Stunde. Der hatt ein Stücke Käs' im Munde. Der Fuchs sah dieß Begegniß gern: Er redt ihn an: Jch grüsse meinen Herrn; Jch bin und bleibe stets dein Knecht. Das dünckt mich billig, gut, und recht. Du bist so edel, schön, und liederreich, Kein andrer Vogel ist dir gleich; Man suche gleich in allen Königreichen. Jch schmeichle nicht, mein Herr, dir weichen Der Falck an Adel und an Macht; Der Pfau an Schein und lichter Pracht; An lieblichem Gesang die süsse Nachtigall. Du übertriffst sie weit mit deinem scharffen Schall. Man hört ihn weit und breit im holen Wald erklingen. Wenn du die Stimm erhebst ein süsses Lied zu singen, So dringt die Wollust sich durch alle meine Glieder, Jch hör entzücket deine Lieder. Der Rabe sprach: Du hast ein zartes Ohr; Und Urtheil und Geschmack darinnen. Jch will dir diese Lust auch jezo nicht mißgönnen. Damit schloß er das Aug, und hub den Kopf empor. Er stimmte starck den widrigen Gesang, Der krachend durch den Berg und tiefen Thal erklang. Jn währendem Gesang entfiel der Käs' ihm bald; Den nahm der Fuchs zum Danck, und trug ihn in den Wald. XXI. Die
des vierzehnten Jahrhunderts. XX. Der Rabe und der Fuchs. ES ſaß ein Fuchs mit leerem Magen, Und im Gemuͤthe gantz zerſchlagen, Jm Schatten eines hohen Baums. Auf dieſen ſetzte ſich ein Rab in gleicher Stunde. Der hatt ein Stuͤcke Kaͤſ’ im Munde. Der Fuchs ſah dieß Begegniß gern: Er redt ihn an: Jch gruͤſſe meinen Herrn; Jch bin und bleibe ſtets dein Knecht. Das duͤnckt mich billig, gut, und recht. Du biſt ſo edel, ſchoͤn, und liederreich, Kein andrer Vogel iſt dir gleich; Man ſuche gleich in allen Koͤnigreichen. Jch ſchmeichle nicht, mein Herr, dir weichen Der Falck an Adel und an Macht; Der Pfau an Schein und lichter Pracht; An lieblichem Geſang die ſuͤſſe Nachtigall. Du uͤbertriffſt ſie weit mit deinem ſcharffen Schall. Man hoͤrt ihn weit und breit im holen Wald erklingen. Wenn du die Stimm erhebſt ein ſuͤſſes Lied zu ſingen, So dringt die Wolluſt ſich durch alle meine Glieder, Jch hoͤr entzuͤcket deine Lieder. Der Rabe ſprach: Du haſt ein zartes Ohr; Und Urtheil und Geſchmack darinnen. Jch will dir dieſe Luſt auch jezo nicht mißgoͤnnen. Damit ſchloß er das Aug, und hub den Kopf empor. Er ſtimmte ſtarck den widrigen Geſang, Der krachend durch den Berg und tiefen Thal erklang. Jn waͤhrendem Geſang entfiel der Kaͤſ’ ihm bald; Den nahm der Fuchs zum Danck, und trug ihn in den Wald. XXI. Die
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des vierzehnten Jahrhunderts.
XX.
Der Rabe und der Fuchs.
ES ſaß ein Fuchs mit leerem Magen,
Und im Gemuͤthe gantz zerſchlagen,
Jm Schatten eines hohen Baums.
Auf dieſen ſetzte ſich ein Rab in gleicher Stunde.
Der hatt ein Stuͤcke Kaͤſ’ im Munde.
Der Fuchs ſah dieß Begegniß gern:
Er redt ihn an: Jch gruͤſſe meinen Herrn;
Jch bin und bleibe ſtets dein Knecht.
Das duͤnckt mich billig, gut, und recht.
Du biſt ſo edel, ſchoͤn, und liederreich,
Kein andrer Vogel iſt dir gleich;
Man ſuche gleich in allen Koͤnigreichen.
Jch ſchmeichle nicht, mein Herr, dir weichen
Der Falck an Adel und an Macht;
Der Pfau an Schein und lichter Pracht;
An lieblichem Geſang die ſuͤſſe Nachtigall.
Du uͤbertriffſt ſie weit mit deinem ſcharffen Schall.
Man hoͤrt ihn weit und breit im holen Wald erklingen.
Wenn du die Stimm erhebſt ein ſuͤſſes Lied zu ſingen,
So dringt die Wolluſt ſich durch alle meine Glieder,
Jch hoͤr entzuͤcket deine Lieder.
Der Rabe ſprach: Du haſt ein zartes Ohr;
Und Urtheil und Geſchmack darinnen.
Jch will dir dieſe Luſt auch jezo nicht mißgoͤnnen.
Damit ſchloß er das Aug, und hub den Kopf empor.
Er ſtimmte ſtarck den widrigen Geſang,
Der krachend durch den Berg und tiefen Thal erklang.
Jn waͤhrendem Geſang entfiel der Kaͤſ’ ihm bald;
Den nahm der Fuchs zum Danck, und trug ihn in den Wald.
XXI. Die
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