Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Einleitung.

Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechts-
bewußtsein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch
mit völkerrechtlichen Garantien schützen wird:

Es giebt kein Eigenthum des Menschen am Menschen. Die
Sclaverei ist im Widerspruch mit dem Rechte der menschlichen
Natur und mit dem Gemeinbewußtsein der Menschheit
.

Religiöse Freiheit.

Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen sichtbar,
ist der völkerrechtliche Schutz der religiösen Freiheit gegen grausame
Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem
State bevorzugter Religionen. Mit Recht überläßt man den gesetzlichen
Schutz der religiösen Bekenntniß- und Cultusfreiheit den einzelnen Staten
und scheut sich bei geringen und zweifelhaften Anlässen die Selbständigkeit
des statlichen Sonderlebens anzutasten. Aber bei großen und schweren
Verletzungen jenes natürlichen Menschenrechts bleibt die gesittete Völker-
genossenschaft nicht mehr theilnahmelos und stumm. Sie äußert zum
mindesten ihre Meinung, giebt Räthe und erläßt Warnungen und Mahnungen.
Zuletzt kann eine grobe Mißachtung der Menschenpflicht zu ernster Macht-
entfaltung auch der Staten führen, welche sich vorzugsweise berufen fühlen,
ihre Glaubensgenossen oder würdiger noch das allgemeine Menschenrecht
wider die fanatischen Verfolger zu schützen. Gegenüber der Türkei ist das
bereits in einzelnen Fällen geschehen. Die europäischen Mächte haben
wiederholt zum Schutze der christlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt.
Das Aufsehen, welches der kirchliche Raub des jüdischen Knaben Mortara
auch in dem romanischen und katholischen Westeuropa gemacht hat, beweist,
daß das öffentliche Gewissen der heutigen Menschheit nicht blos dann sich
zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, sondern auch
dann, wenn zu Gunsten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie
verletzt werden.

Gesandtschaften und Consulate.

Geringere Schwierigkeiten standen der Pflege des friedlichen Verkehrs
von Stat zu Stat und der Nationen unter einander im Wege. Zu allen
Zeiten hatten die Völker -- wenige wilde Stämme ausgenommen -- mit
einander durch Gesandte, als Repräsentanten unterhandelt; und von Alters
her wurden diese Gesandten erst durch die Religion, dann durch das Recht

Einleitung.

Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechts-
bewußtſein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch
mit völkerrechtlichen Garantien ſchützen wird:

Es giebt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Die
Sclaverei iſt im Widerſpruch mit dem Rechte der menſchlichen
Natur und mit dem Gemeinbewußtſein der Menſchheit
.

Religiöſe Freiheit.

Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen ſichtbar,
iſt der völkerrechtliche Schutz der religiöſen Freiheit gegen grauſame
Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem
State bevorzugter Religionen. Mit Recht überläßt man den geſetzlichen
Schutz der religiöſen Bekenntniß- und Cultusfreiheit den einzelnen Staten
und ſcheut ſich bei geringen und zweifelhaften Anläſſen die Selbſtändigkeit
des ſtatlichen Sonderlebens anzutaſten. Aber bei großen und ſchweren
Verletzungen jenes natürlichen Menſchenrechts bleibt die geſittete Völker-
genoſſenſchaft nicht mehr theilnahmelos und ſtumm. Sie äußert zum
mindeſten ihre Meinung, giebt Räthe und erläßt Warnungen und Mahnungen.
Zuletzt kann eine grobe Mißachtung der Menſchenpflicht zu ernſter Macht-
entfaltung auch der Staten führen, welche ſich vorzugsweiſe berufen fühlen,
ihre Glaubensgenoſſen oder würdiger noch das allgemeine Menſchenrecht
wider die fanatiſchen Verfolger zu ſchützen. Gegenüber der Türkei iſt das
bereits in einzelnen Fällen geſchehen. Die europäiſchen Mächte haben
wiederholt zum Schutze der chriſtlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt.
Das Aufſehen, welches der kirchliche Raub des jüdiſchen Knaben Mortara
auch in dem romaniſchen und katholiſchen Weſteuropa gemacht hat, beweiſt,
daß das öffentliche Gewiſſen der heutigen Menſchheit nicht blos dann ſich
zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, ſondern auch
dann, wenn zu Gunſten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie
verletzt werden.

Geſandtſchaften und Conſulate.

Geringere Schwierigkeiten ſtanden der Pflege des friedlichen Verkehrs
von Stat zu Stat und der Nationen unter einander im Wege. Zu allen
Zeiten hatten die Völker — wenige wilde Stämme ausgenommen — mit
einander durch Geſandte, als Repräſentanten unterhandelt; und von Alters
her wurden dieſe Geſandten erſt durch die Religion, dann durch das Recht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0043" n="21"/>
          <fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
          <p>Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechts-<lb/>
bewußt&#x017F;ein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch<lb/>
mit völkerrechtlichen Garantien &#x017F;chützen wird:</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Es giebt kein Eigenthum des Men&#x017F;chen am Men&#x017F;chen. Die<lb/>
Sclaverei i&#x017F;t im Wider&#x017F;pruch mit dem Rechte der men&#x017F;chlichen<lb/>
Natur und mit dem Gemeinbewußt&#x017F;ein der Men&#x017F;chheit</hi>.</p><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Religiö&#x017F;e Freiheit.</hi> </head><lb/>
            <p>Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen &#x017F;ichtbar,<lb/>
i&#x017F;t der völkerrechtliche Schutz der <hi rendition="#g">religiö&#x017F;en Freiheit</hi> gegen grau&#x017F;ame<lb/>
Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem<lb/>
State bevorzugter Religionen. Mit Recht überläßt man den ge&#x017F;etzlichen<lb/>
Schutz der religiö&#x017F;en Bekenntniß- und Cultusfreiheit den einzelnen Staten<lb/>
und &#x017F;cheut &#x017F;ich bei geringen und zweifelhaften Anlä&#x017F;&#x017F;en die Selb&#x017F;tändigkeit<lb/>
des &#x017F;tatlichen Sonderlebens anzuta&#x017F;ten. Aber bei großen und &#x017F;chweren<lb/>
Verletzungen jenes natürlichen Men&#x017F;chenrechts bleibt die ge&#x017F;ittete Völker-<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nicht mehr theilnahmelos und &#x017F;tumm. Sie äußert zum<lb/>
minde&#x017F;ten ihre Meinung, giebt Räthe und erläßt Warnungen und Mahnungen.<lb/>
Zuletzt kann eine grobe Mißachtung der Men&#x017F;chenpflicht zu ern&#x017F;ter Macht-<lb/>
entfaltung auch der Staten führen, welche &#x017F;ich vorzugswei&#x017F;e berufen fühlen,<lb/>
ihre Glaubensgeno&#x017F;&#x017F;en oder würdiger noch das allgemeine Men&#x017F;chenrecht<lb/>
wider die fanati&#x017F;chen Verfolger zu &#x017F;chützen. Gegenüber der Türkei i&#x017F;t das<lb/>
bereits in einzelnen Fällen ge&#x017F;chehen. Die europäi&#x017F;chen Mächte haben<lb/>
wiederholt zum Schutze der chri&#x017F;tlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt.<lb/>
Das Auf&#x017F;ehen, welches der kirchliche Raub des jüdi&#x017F;chen Knaben <hi rendition="#g">Mortara</hi><lb/>
auch in dem romani&#x017F;chen und katholi&#x017F;chen We&#x017F;teuropa gemacht hat, bewei&#x017F;t,<lb/>
daß das öffentliche Gewi&#x017F;&#x017F;en der heutigen Men&#x017F;chheit nicht blos dann &#x017F;ich<lb/>
zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, &#x017F;ondern auch<lb/>
dann, wenn zu Gun&#x017F;ten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie<lb/>
verletzt werden.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Ge&#x017F;andt&#x017F;chaften und Con&#x017F;ulate.</hi> </head><lb/>
          <p>Geringere Schwierigkeiten &#x017F;tanden der Pflege des friedlichen Verkehrs<lb/>
von Stat zu Stat und der Nationen unter einander im Wege. Zu allen<lb/>
Zeiten hatten die Völker &#x2014; wenige wilde Stämme ausgenommen &#x2014; mit<lb/>
einander durch Ge&#x017F;andte, als Reprä&#x017F;entanten unterhandelt; und von Alters<lb/>
her wurden die&#x017F;e Ge&#x017F;andten er&#x017F;t durch die Religion, dann durch das Recht<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0043] Einleitung. Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechts- bewußtſein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch mit völkerrechtlichen Garantien ſchützen wird: Es giebt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Die Sclaverei iſt im Widerſpruch mit dem Rechte der menſchlichen Natur und mit dem Gemeinbewußtſein der Menſchheit. Religiöſe Freiheit. Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen ſichtbar, iſt der völkerrechtliche Schutz der religiöſen Freiheit gegen grauſame Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem State bevorzugter Religionen. Mit Recht überläßt man den geſetzlichen Schutz der religiöſen Bekenntniß- und Cultusfreiheit den einzelnen Staten und ſcheut ſich bei geringen und zweifelhaften Anläſſen die Selbſtändigkeit des ſtatlichen Sonderlebens anzutaſten. Aber bei großen und ſchweren Verletzungen jenes natürlichen Menſchenrechts bleibt die geſittete Völker- genoſſenſchaft nicht mehr theilnahmelos und ſtumm. Sie äußert zum mindeſten ihre Meinung, giebt Räthe und erläßt Warnungen und Mahnungen. Zuletzt kann eine grobe Mißachtung der Menſchenpflicht zu ernſter Macht- entfaltung auch der Staten führen, welche ſich vorzugsweiſe berufen fühlen, ihre Glaubensgenoſſen oder würdiger noch das allgemeine Menſchenrecht wider die fanatiſchen Verfolger zu ſchützen. Gegenüber der Türkei iſt das bereits in einzelnen Fällen geſchehen. Die europäiſchen Mächte haben wiederholt zum Schutze der chriſtlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt. Das Aufſehen, welches der kirchliche Raub des jüdiſchen Knaben Mortara auch in dem romaniſchen und katholiſchen Weſteuropa gemacht hat, beweiſt, daß das öffentliche Gewiſſen der heutigen Menſchheit nicht blos dann ſich zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, ſondern auch dann, wenn zu Gunſten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie verletzt werden. Geſandtſchaften und Conſulate. Geringere Schwierigkeiten ſtanden der Pflege des friedlichen Verkehrs von Stat zu Stat und der Nationen unter einander im Wege. Zu allen Zeiten hatten die Völker — wenige wilde Stämme ausgenommen — mit einander durch Geſandte, als Repräſentanten unterhandelt; und von Alters her wurden dieſe Geſandten erſt durch die Religion, dann durch das Recht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/43
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/43>, abgerufen am 21.11.2024.