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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Sechstes Buch.

Im Privatrecht hindert eine ernste Drohung und die gewaltsame Nöthi-
gung die Gültigkeit des Vertrags. Im Völkerrecht aber wird angenommen, der
Stat selbst sei alle Zeit frei und willensfähig, wenn nur seine Vertreter
persönlich frei sind. Das Statsrecht erkennt auch sonst die Nothwendigkeit
der Verhältnisse
als entscheidend an; es ist seinem Wesen nach die als noth-
wendig erkannte Ordnung der öffentlichen Verhältnisse. Daher hindern zwingende
Einwirkungen, in denen sich jene Nothwendigkeit offenbart, die Gültigkeit des Stats-
willens nicht, wenn er denselben Rechnung trägt. Es gilt das insbesondere auch
von Friedensschlüssen. Vgl. unten Buch VIII. Cap. 10. Würde man die Verträge
der Staten aus dem Grunde als ungültig aufechten können, daß der eine Stat aus
Furcht vor dem andern und durch dessen Drohungen geschreckt ohne freien Vertrags-
willen den Vertrag abgeschlossen habe, so gäbe es kein Ende des Völkerstreits und
wäre niemals ein gesicherter Friedensstand zu erwarten.

409.

Wenn jedoch die individuelle Willensfreiheit derjenigen Personen,
welche den Stat bei dem Vertragsschluß vertreten, durch Geistesstörung
aufgehoben oder durch Besinnungslosigkeit verwirrt oder durch Gewalt oder
ernste und nahe Bedrohung gebunden ist, dann sind dieselben nicht fähig,
für den Stat verbindliche Erklärungen abzugeben.

Wenn z. B. der Gesante, der zum Vertragsabschluß ermächtigt ist, wahnsin-
nig wird, oder wenn er so berauscht ist, daß er nicht mehr weiß, was er thut, so
ist seine Unterschrift nicht bindend. Ebenso würde auch die Unterschrift eines Sou-
veräns nicht den Stat verpflichten, wenn demselben gewaltsam die Hand zum Unter-
zeichnen geführt oder er mit Lebensdrohung zur Unterschrift genöthigt würde. Oder
wenn, wie das dem Polnischen Reichstag widerfahren ist, die nothwendige Zustim-
mung zu einem Vertrag damit erzwungen wird, daß die Rathsversammlung mit
Truppen umstellt und die Stimmenden mit dem Tode oder dem Gefängniß bedroht
werden, so ist auch ein solcher Vertrag ungültig, nicht weil der Stat keinen freien
Willen hat, sondern weil es den Vertretern des Stats an der nöthigen Willen-
freiheit fehlt.

410.

Die Rechtsverbindlichkeit der Statenverträge beruht auf dem Rechts-
bewußtsein der Menschheit, und ist ein nothwendiger Bestandtheil der völ-
kerrechtlichen Weltordnung.

Verträge, deren Inhalt das allgemein anerkannte Menschenrecht
oder die bindenden Gesetze des Völkerrechts verletzen, sind deßhalb ungültig.

Der alte Streit über den Rechtsgrund der Verbindlichkeit der
Verträge dauert noch fort. Das Völkerrecht kann der Frage nicht damit entgehen,

Sechstes Buch.

Im Privatrecht hindert eine ernſte Drohung und die gewaltſame Nöthi-
gung die Gültigkeit des Vertrags. Im Völkerrecht aber wird angenommen, der
Stat ſelbſt ſei alle Zeit frei und willensfähig, wenn nur ſeine Vertreter
perſönlich frei ſind. Das Statsrecht erkennt auch ſonſt die Nothwendigkeit
der Verhältniſſe
als entſcheidend an; es iſt ſeinem Weſen nach die als noth-
wendig erkannte Ordnung der öffentlichen Verhältniſſe. Daher hindern zwingende
Einwirkungen, in denen ſich jene Nothwendigkeit offenbart, die Gültigkeit des Stats-
willens nicht, wenn er denſelben Rechnung trägt. Es gilt das insbeſondere auch
von Friedensſchlüſſen. Vgl. unten Buch VIII. Cap. 10. Würde man die Verträge
der Staten aus dem Grunde als ungültig aufechten können, daß der eine Stat aus
Furcht vor dem andern und durch deſſen Drohungen geſchreckt ohne freien Vertrags-
willen den Vertrag abgeſchloſſen habe, ſo gäbe es kein Ende des Völkerſtreits und
wäre niemals ein geſicherter Friedensſtand zu erwarten.

409.

Wenn jedoch die individuelle Willensfreiheit derjenigen Perſonen,
welche den Stat bei dem Vertragsſchluß vertreten, durch Geiſtesſtörung
aufgehoben oder durch Beſinnungsloſigkeit verwirrt oder durch Gewalt oder
ernſte und nahe Bedrohung gebunden iſt, dann ſind dieſelben nicht fähig,
für den Stat verbindliche Erklärungen abzugeben.

Wenn z. B. der Geſante, der zum Vertragsabſchluß ermächtigt iſt, wahnſin-
nig wird, oder wenn er ſo berauſcht iſt, daß er nicht mehr weiß, was er thut, ſo
iſt ſeine Unterſchrift nicht bindend. Ebenſo würde auch die Unterſchrift eines Sou-
veräns nicht den Stat verpflichten, wenn demſelben gewaltſam die Hand zum Unter-
zeichnen geführt oder er mit Lebensdrohung zur Unterſchrift genöthigt würde. Oder
wenn, wie das dem Polniſchen Reichstag widerfahren iſt, die nothwendige Zuſtim-
mung zu einem Vertrag damit erzwungen wird, daß die Rathsverſammlung mit
Truppen umſtellt und die Stimmenden mit dem Tode oder dem Gefängniß bedroht
werden, ſo iſt auch ein ſolcher Vertrag ungültig, nicht weil der Stat keinen freien
Willen hat, ſondern weil es den Vertretern des Stats an der nöthigen Willen-
freiheit fehlt.

410.

Die Rechtsverbindlichkeit der Statenverträge beruht auf dem Rechts-
bewußtſein der Menſchheit, und iſt ein nothwendiger Beſtandtheil der völ-
kerrechtlichen Weltordnung.

Verträge, deren Inhalt das allgemein anerkannte Menſchenrecht
oder die bindenden Geſetze des Völkerrechts verletzen, ſind deßhalb ungültig.

Der alte Streit über den Rechtsgrund der Verbindlichkeit der
Verträge dauert noch fort. Das Völkerrecht kann der Frage nicht damit entgehen,

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[234/0256] Sechstes Buch. Im Privatrecht hindert eine ernſte Drohung und die gewaltſame Nöthi- gung die Gültigkeit des Vertrags. Im Völkerrecht aber wird angenommen, der Stat ſelbſt ſei alle Zeit frei und willensfähig, wenn nur ſeine Vertreter perſönlich frei ſind. Das Statsrecht erkennt auch ſonſt die Nothwendigkeit der Verhältniſſe als entſcheidend an; es iſt ſeinem Weſen nach die als noth- wendig erkannte Ordnung der öffentlichen Verhältniſſe. Daher hindern zwingende Einwirkungen, in denen ſich jene Nothwendigkeit offenbart, die Gültigkeit des Stats- willens nicht, wenn er denſelben Rechnung trägt. Es gilt das insbeſondere auch von Friedensſchlüſſen. Vgl. unten Buch VIII. Cap. 10. Würde man die Verträge der Staten aus dem Grunde als ungültig aufechten können, daß der eine Stat aus Furcht vor dem andern und durch deſſen Drohungen geſchreckt ohne freien Vertrags- willen den Vertrag abgeſchloſſen habe, ſo gäbe es kein Ende des Völkerſtreits und wäre niemals ein geſicherter Friedensſtand zu erwarten. 409. Wenn jedoch die individuelle Willensfreiheit derjenigen Perſonen, welche den Stat bei dem Vertragsſchluß vertreten, durch Geiſtesſtörung aufgehoben oder durch Beſinnungsloſigkeit verwirrt oder durch Gewalt oder ernſte und nahe Bedrohung gebunden iſt, dann ſind dieſelben nicht fähig, für den Stat verbindliche Erklärungen abzugeben. Wenn z. B. der Geſante, der zum Vertragsabſchluß ermächtigt iſt, wahnſin- nig wird, oder wenn er ſo berauſcht iſt, daß er nicht mehr weiß, was er thut, ſo iſt ſeine Unterſchrift nicht bindend. Ebenſo würde auch die Unterſchrift eines Sou- veräns nicht den Stat verpflichten, wenn demſelben gewaltſam die Hand zum Unter- zeichnen geführt oder er mit Lebensdrohung zur Unterſchrift genöthigt würde. Oder wenn, wie das dem Polniſchen Reichstag widerfahren iſt, die nothwendige Zuſtim- mung zu einem Vertrag damit erzwungen wird, daß die Rathsverſammlung mit Truppen umſtellt und die Stimmenden mit dem Tode oder dem Gefängniß bedroht werden, ſo iſt auch ein ſolcher Vertrag ungültig, nicht weil der Stat keinen freien Willen hat, ſondern weil es den Vertretern des Stats an der nöthigen Willen- freiheit fehlt. 410. Die Rechtsverbindlichkeit der Statenverträge beruht auf dem Rechts- bewußtſein der Menſchheit, und iſt ein nothwendiger Beſtandtheil der völ- kerrechtlichen Weltordnung. Verträge, deren Inhalt das allgemein anerkannte Menſchenrecht oder die bindenden Geſetze des Völkerrechts verletzen, ſind deßhalb ungültig. Der alte Streit über den Rechtsgrund der Verbindlichkeit der Verträge dauert noch fort. Das Völkerrecht kann der Frage nicht damit entgehen,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/256>, abgerufen am 21.11.2024.