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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Viertes Buch.

1. Die Gebietshoheit gehört dem öffentlichen, wie das Eigenthum dem Pri-
vatrecht
an und beide Arten der Herrschaft treffen nicht zusammen. Die Person, welcher
Gebietshoheit zukommt, ist und kann nur sein der Stat, weil nur der Stat die
öffentlichen Hoheitsrechte und daher öffentliche Herrschaft hat. Dagegen das Eigen-
thum, welches nur Privatherrschaft ist, kommt umgekehrt nur den Privatper-
sonen
zu, welche dasselbe als Privatgut verwerthen können. Wenn der Stat zu-
fällig auch Privateigenthum hat, so hat er es nicht als Stat, sondern ebenso wie
jede andere Privatperson und verfügt darüber in den Geschäftsformen des Privat-
rechts.

2. Nur insofern macht sich die öffentlich-rechtliche Statsherrschaft auch in
wirthschaftlicher Richtung anstatt des Eigenthums an solchem Boden geltend, an wel-
chem entweder Privateigenthum nicht möglich oder nicht (noch nicht oder nicht
mehr) vorhanden ist. In der letztern Hinsicht freilich sind zwei Meinungen mög-
lich und beide in der Rechtsbildung vertreten. Nach der einen ist der eigenthums-
fähige
aber nicht im Eigenthum befindliche Boden als herrenlose Sache zu
betrachten, welche durch freie Besitznahme (occupatio) ins Eigenthum gelangt. Nach
der andern macht sich die Gebietshoheit an dem eigenthümerlosen Boden nach allen
Seiten als ursprüglich statliche Bodenherrschaft geltend und kann daher
nicht Jedermann denselben willkürlich sich aneignen, sondern bedarf man dazu der
Ermächtigung des Stats. War die erste Meinung wenigstens zum Theil in
dem alten römischen Recht anerkannt, so beherrscht die letztere Meinung, welche
den germanischen Rechtsansichten entspricht, die moderne Welt. Am großartig-
sten wird dieselbe in den Colonien Englands und der Vereinigten Staten
von Nordamerika durchgeführt. Die Interessen einer geordneten und friedlichen
Besitznahme und Cultivirung des Bodens werden offenbar durch die letztere Rechts-
bildung besser geschützt und gefördert als durch die erstere.

Der unwirthliche, des Eigenthums unfähige Boden kann auch nicht im
Eigenthum des Stats sein, obwohl man die Hoheit des Stats darüber, insbesondere
über die öffentlichen Gewässer oft Eigenthum nennt. Die Grenzen des wirthlichen
Bodens werden aber durch die fortschreitende Cultur auf Kosten des unwirthlichen
Gebietes beständig erweitert, und umgekehrt durch schlechte Cultur und Vernachlässi-
gung wieder verengert. Insbesondere übt eine geordnete Bewässerung und Entwäs-
serung einen mächtigen Einfluß aus auf die Culturfähigkeit des Bodens.

278.

An statenlosem Land wird die Gebietshoheit erworben durch die
Besitznahme einer bestimmten Statsgewalt. Der bloße Wille, Besitz zu
ergreifen, genügt nicht dazu, auch nicht die symbolische oder ausdrückliche
Erklärung dieses Willens, noch selbst eine bloß vorübergehende Besetzung.

Zur Zeit der großen europäischen Entdeckungen überseeischer Länder meinte
man, schon die bloße Entdeckung unbekannter Länder sei ein genügender Rechts-
titel für die behauptete Gebietshoheit. Während Jahrhunderten begründete die eng-

Viertes Buch.

1. Die Gebietshoheit gehört dem öffentlichen, wie das Eigenthum dem Pri-
vatrecht
an und beide Arten der Herrſchaft treffen nicht zuſammen. Die Perſon, welcher
Gebietshoheit zukommt, iſt und kann nur ſein der Stat, weil nur der Stat die
öffentlichen Hoheitsrechte und daher öffentliche Herrſchaft hat. Dagegen das Eigen-
thum, welches nur Privatherrſchaft iſt, kommt umgekehrt nur den Privatper-
ſonen
zu, welche dasſelbe als Privatgut verwerthen können. Wenn der Stat zu-
fällig auch Privateigenthum hat, ſo hat er es nicht als Stat, ſondern ebenſo wie
jede andere Privatperſon und verfügt darüber in den Geſchäftsformen des Privat-
rechts.

2. Nur inſofern macht ſich die öffentlich-rechtliche Statsherrſchaft auch in
wirthſchaftlicher Richtung anſtatt des Eigenthums an ſolchem Boden geltend, an wel-
chem entweder Privateigenthum nicht möglich oder nicht (noch nicht oder nicht
mehr) vorhanden iſt. In der letztern Hinſicht freilich ſind zwei Meinungen mög-
lich und beide in der Rechtsbildung vertreten. Nach der einen iſt der eigenthums-
fähige
aber nicht im Eigenthum befindliche Boden als herrenloſe Sache zu
betrachten, welche durch freie Beſitznahme (occupatio) ins Eigenthum gelangt. Nach
der andern macht ſich die Gebietshoheit an dem eigenthümerloſen Boden nach allen
Seiten als urſprüglich ſtatliche Bodenherrſchaft geltend und kann daher
nicht Jedermann denſelben willkürlich ſich aneignen, ſondern bedarf man dazu der
Ermächtigung des Stats. War die erſte Meinung wenigſtens zum Theil in
dem alten römiſchen Recht anerkannt, ſo beherrſcht die letztere Meinung, welche
den germaniſchen Rechtsanſichten entſpricht, die moderne Welt. Am großartig-
ſten wird dieſelbe in den Colonien Englands und der Vereinigten Staten
von Nordamerika durchgeführt. Die Intereſſen einer geordneten und friedlichen
Beſitznahme und Cultivirung des Bodens werden offenbar durch die letztere Rechts-
bildung beſſer geſchützt und gefördert als durch die erſtere.

Der unwirthliche, des Eigenthums unfähige Boden kann auch nicht im
Eigenthum des Stats ſein, obwohl man die Hoheit des Stats darüber, insbeſondere
über die öffentlichen Gewäſſer oft Eigenthum nennt. Die Grenzen des wirthlichen
Bodens werden aber durch die fortſchreitende Cultur auf Koſten des unwirthlichen
Gebietes beſtändig erweitert, und umgekehrt durch ſchlechte Cultur und Vernachläſſi-
gung wieder verengert. Insbeſondere übt eine geordnete Bewäſſerung und Entwäſ-
ſerung einen mächtigen Einfluß aus auf die Culturfähigkeit des Bodens.

278.

An ſtatenloſem Land wird die Gebietshoheit erworben durch die
Beſitznahme einer beſtimmten Statsgewalt. Der bloße Wille, Beſitz zu
ergreifen, genügt nicht dazu, auch nicht die ſymboliſche oder ausdrückliche
Erklärung dieſes Willens, noch ſelbſt eine bloß vorübergehende Beſetzung.

Zur Zeit der großen europäiſchen Entdeckungen überſeeiſcher Länder meinte
man, ſchon die bloße Entdeckung unbekannter Länder ſei ein genügender Rechts-
titel für die behauptete Gebietshoheit. Während Jahrhunderten begründete die eng-

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[164/0186] Viertes Buch. 1. Die Gebietshoheit gehört dem öffentlichen, wie das Eigenthum dem Pri- vatrecht an und beide Arten der Herrſchaft treffen nicht zuſammen. Die Perſon, welcher Gebietshoheit zukommt, iſt und kann nur ſein der Stat, weil nur der Stat die öffentlichen Hoheitsrechte und daher öffentliche Herrſchaft hat. Dagegen das Eigen- thum, welches nur Privatherrſchaft iſt, kommt umgekehrt nur den Privatper- ſonen zu, welche dasſelbe als Privatgut verwerthen können. Wenn der Stat zu- fällig auch Privateigenthum hat, ſo hat er es nicht als Stat, ſondern ebenſo wie jede andere Privatperſon und verfügt darüber in den Geſchäftsformen des Privat- rechts. 2. Nur inſofern macht ſich die öffentlich-rechtliche Statsherrſchaft auch in wirthſchaftlicher Richtung anſtatt des Eigenthums an ſolchem Boden geltend, an wel- chem entweder Privateigenthum nicht möglich oder nicht (noch nicht oder nicht mehr) vorhanden iſt. In der letztern Hinſicht freilich ſind zwei Meinungen mög- lich und beide in der Rechtsbildung vertreten. Nach der einen iſt der eigenthums- fähige aber nicht im Eigenthum befindliche Boden als herrenloſe Sache zu betrachten, welche durch freie Beſitznahme (occupatio) ins Eigenthum gelangt. Nach der andern macht ſich die Gebietshoheit an dem eigenthümerloſen Boden nach allen Seiten als urſprüglich ſtatliche Bodenherrſchaft geltend und kann daher nicht Jedermann denſelben willkürlich ſich aneignen, ſondern bedarf man dazu der Ermächtigung des Stats. War die erſte Meinung wenigſtens zum Theil in dem alten römiſchen Recht anerkannt, ſo beherrſcht die letztere Meinung, welche den germaniſchen Rechtsanſichten entſpricht, die moderne Welt. Am großartig- ſten wird dieſelbe in den Colonien Englands und der Vereinigten Staten von Nordamerika durchgeführt. Die Intereſſen einer geordneten und friedlichen Beſitznahme und Cultivirung des Bodens werden offenbar durch die letztere Rechts- bildung beſſer geſchützt und gefördert als durch die erſtere. Der unwirthliche, des Eigenthums unfähige Boden kann auch nicht im Eigenthum des Stats ſein, obwohl man die Hoheit des Stats darüber, insbeſondere über die öffentlichen Gewäſſer oft Eigenthum nennt. Die Grenzen des wirthlichen Bodens werden aber durch die fortſchreitende Cultur auf Koſten des unwirthlichen Gebietes beſtändig erweitert, und umgekehrt durch ſchlechte Cultur und Vernachläſſi- gung wieder verengert. Insbeſondere übt eine geordnete Bewäſſerung und Entwäſ- ſerung einen mächtigen Einfluß aus auf die Culturfähigkeit des Bodens. 278. An ſtatenloſem Land wird die Gebietshoheit erworben durch die Beſitznahme einer beſtimmten Statsgewalt. Der bloße Wille, Beſitz zu ergreifen, genügt nicht dazu, auch nicht die ſymboliſche oder ausdrückliche Erklärung dieſes Willens, noch ſelbſt eine bloß vorübergehende Beſetzung. Zur Zeit der großen europäiſchen Entdeckungen überſeeiſcher Länder meinte man, ſchon die bloße Entdeckung unbekannter Länder ſei ein genügender Rechts- titel für die behauptete Gebietshoheit. Während Jahrhunderten begründete die eng-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/186>, abgerufen am 21.11.2024.