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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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XIX. Die Tan-ka-Boote.
auch Bettler und Krüppel rudern sich Almosen heischend in kleinen
Nachen durch das Gedränge. -- Die meisten Passagierboote werden
von Mädchen oder Frauen gerudert, die oft bei ihrer schweren Ar-
beit noch ein Kind auf den Rücken gebunden tragen. Diese
"Tan-ka-Boote" enthalten die ganze Häuslichkeit einer Familie,
sind aber meist nur von Frauen und Kindern bewohnt; vermuth-
lich fischen die Männer oder arbeiten am Lande; denn dass die
Tan-ka-Chinesen, wie man erzählt, keinen festen Boden betreten
dürfen, ist kaum zu glauben, -- wie wären sie zu erkennen? --
Ihre Boote sind flach gebaut und haben ein bewegliches Dach von
Mattengeflecht, durch welches nach Bedürfniss Luft und Licht ein-
gelassen werden kann. Im hintersten Winkel steht ein kleiner ver-
goldeter Altarschrein mit künstlichen Blumen und anderen Zierlich-
keiten, vor welchem die Schifferinnen zu gewissen Tageszeiten
Kerzen anzünden und andächtig niederknieen. Sie scheinen bei
aller Armuth meist heiter und zufrieden und halten ihr schwimmen-
des Häuschen sehr reinlich. -- Als der Hankow vor Kan-ton
ankerte, umdrängte ihn eine dichte Schaar dieser Boote; wie eine
Gänseheerde schnatterten die Dirnen.

Herr von Carlowitz, der den Gesandten nach Kan-ton be-
gleitete, hatte auf der Fahrt das Unglück, vom unteren Deck zwölf
Fuss tief in den Schiffsraum hinabzustürzen. Aeusserlich nur wenig
verletzt blieb er doch eine Weile besinnungslos, musste mehrere
Tage das Bett hüten und konnte den Gesandten auf seinen Wande-
rungen durch Kan-ton nicht führen. Graf Eulenburg stieg mit
seinen Begleitern bei dem Hamburger Kaufmann Herrn Dreyer ab,
der ihm sein gastfreies Haus zur Verfügung stellte. Frau von Carlo-
witz
machte sehr liebenswürdig die Honneurs des preussischen Con-
sulates. -- Die beiden folgenden Tage wurden mit Wanderungen
durch die Stadt und Besuchen in den Kaufläden zugebracht, welche
in Kan-ton glänzender ausgestattet sind, als irgendwo in China.

Kuan-tsu-fu, Kuan-tun oder San-tsin, -- so heisst Kan-
ton
in der Landessprache, soll schon im grauen Alterthum die
wichtigste Stadt des südlichen China gewesen sein. Im 3. Jahr-
hundert v. Chr. wurde sie mit Pallisaden, und 1067 zur Abwehr
der räuberischen Cochin-Chinesen mit einer Ringmauer umgeben.

Den Heeren der Mandschu widerstand sie lange Zeit, fiel
aber 1650 nach schwerer Belagerung durch Verrath und wurde der
Plünderung preisgegeben. Dabei sollen 700,000 Kantonesen um-

XIX. Die Tan-ka-Boote.
auch Bettler und Krüppel rudern sich Almosen heischend in kleinen
Nachen durch das Gedränge. — Die meisten Passagierboote werden
von Mädchen oder Frauen gerudert, die oft bei ihrer schweren Ar-
beit noch ein Kind auf den Rücken gebunden tragen. Diese
»Tan-ka-Boote« enthalten die ganze Häuslichkeit einer Familie,
sind aber meist nur von Frauen und Kindern bewohnt; vermuth-
lich fischen die Männer oder arbeiten am Lande; denn dass die
Tan-ka-Chinesen, wie man erzählt, keinen festen Boden betreten
dürfen, ist kaum zu glauben, — wie wären sie zu erkennen? —
Ihre Boote sind flach gebaut und haben ein bewegliches Dach von
Mattengeflecht, durch welches nach Bedürfniss Luft und Licht ein-
gelassen werden kann. Im hintersten Winkel steht ein kleiner ver-
goldeter Altarschrein mit künstlichen Blumen und anderen Zierlich-
keiten, vor welchem die Schifferinnen zu gewissen Tageszeiten
Kerzen anzünden und andächtig niederknieen. Sie scheinen bei
aller Armuth meist heiter und zufrieden und halten ihr schwimmen-
des Häuschen sehr reinlich. — Als der Hankow vor Kan-ton
ankerte, umdrängte ihn eine dichte Schaar dieser Boote; wie eine
Gänseheerde schnatterten die Dirnen.

Herr von Carlowitz, der den Gesandten nach Kan-ton be-
gleitete, hatte auf der Fahrt das Unglück, vom unteren Deck zwölf
Fuss tief in den Schiffsraum hinabzustürzen. Aeusserlich nur wenig
verletzt blieb er doch eine Weile besinnungslos, musste mehrere
Tage das Bett hüten und konnte den Gesandten auf seinen Wande-
rungen durch Kan-ton nicht führen. Graf Eulenburg stieg mit
seinen Begleitern bei dem Hamburger Kaufmann Herrn Dreyer ab,
der ihm sein gastfreies Haus zur Verfügung stellte. Frau von Carlo-
witz
machte sehr liebenswürdig die Honneurs des preussischen Con-
sulates. — Die beiden folgenden Tage wurden mit Wanderungen
durch die Stadt und Besuchen in den Kaufläden zugebracht, welche
in Kan-ton glänzender ausgestattet sind, als irgendwo in China.

Kuaṅ-tšu-fu, Kuaṅ-tuṅ oder Saṅ-tšiṅ, — so heisst Kan-
ton
in der Landessprache, soll schon im grauen Alterthum die
wichtigste Stadt des südlichen China gewesen sein. Im 3. Jahr-
hundert v. Chr. wurde sie mit Pallisaden, und 1067 zur Abwehr
der räuberischen Cochin-Chinesen mit einer Ringmauer umgeben.

Den Heeren der Mandschu widerstand sie lange Zeit, fiel
aber 1650 nach schwerer Belagerung durch Verrath und wurde der
Plünderung preisgegeben. Dabei sollen 700,000 Kantonesen um-

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[191/0205] XIX. Die Tan-ka-Boote. auch Bettler und Krüppel rudern sich Almosen heischend in kleinen Nachen durch das Gedränge. — Die meisten Passagierboote werden von Mädchen oder Frauen gerudert, die oft bei ihrer schweren Ar- beit noch ein Kind auf den Rücken gebunden tragen. Diese »Tan-ka-Boote« enthalten die ganze Häuslichkeit einer Familie, sind aber meist nur von Frauen und Kindern bewohnt; vermuth- lich fischen die Männer oder arbeiten am Lande; denn dass die Tan-ka-Chinesen, wie man erzählt, keinen festen Boden betreten dürfen, ist kaum zu glauben, — wie wären sie zu erkennen? — Ihre Boote sind flach gebaut und haben ein bewegliches Dach von Mattengeflecht, durch welches nach Bedürfniss Luft und Licht ein- gelassen werden kann. Im hintersten Winkel steht ein kleiner ver- goldeter Altarschrein mit künstlichen Blumen und anderen Zierlich- keiten, vor welchem die Schifferinnen zu gewissen Tageszeiten Kerzen anzünden und andächtig niederknieen. Sie scheinen bei aller Armuth meist heiter und zufrieden und halten ihr schwimmen- des Häuschen sehr reinlich. — Als der Hankow vor Kan-ton ankerte, umdrängte ihn eine dichte Schaar dieser Boote; wie eine Gänseheerde schnatterten die Dirnen. Herr von Carlowitz, der den Gesandten nach Kan-ton be- gleitete, hatte auf der Fahrt das Unglück, vom unteren Deck zwölf Fuss tief in den Schiffsraum hinabzustürzen. Aeusserlich nur wenig verletzt blieb er doch eine Weile besinnungslos, musste mehrere Tage das Bett hüten und konnte den Gesandten auf seinen Wande- rungen durch Kan-ton nicht führen. Graf Eulenburg stieg mit seinen Begleitern bei dem Hamburger Kaufmann Herrn Dreyer ab, der ihm sein gastfreies Haus zur Verfügung stellte. Frau von Carlo- witz machte sehr liebenswürdig die Honneurs des preussischen Con- sulates. — Die beiden folgenden Tage wurden mit Wanderungen durch die Stadt und Besuchen in den Kaufläden zugebracht, welche in Kan-ton glänzender ausgestattet sind, als irgendwo in China. Kuaṅ-tšu-fu, Kuaṅ-tuṅ oder Saṅ-tšiṅ, — so heisst Kan- ton in der Landessprache, soll schon im grauen Alterthum die wichtigste Stadt des südlichen China gewesen sein. Im 3. Jahr- hundert v. Chr. wurde sie mit Pallisaden, und 1067 zur Abwehr der räuberischen Cochin-Chinesen mit einer Ringmauer umgeben. Den Heeren der Mandschu widerstand sie lange Zeit, fiel aber 1650 nach schwerer Belagerung durch Verrath und wurde der Plünderung preisgegeben. Dabei sollen 700,000 Kantonesen um-

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/205>, abgerufen am 26.04.2024.