Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_122.001
Gattung an: 1) die genannte darstellende; 2) das Exempel-Epigramm, pba_122.002
welches derselben nur "eine schlichte Anwendung hinzufügt;" 3) das pba_122.003
schildernde, welches "ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunkt pba_122.004
ausmalt;" 4) das leidenschaftliche, welches "einen Gegenstand der pba_122.005
Empfindung gleichfalls bis zu einem höchsten Punkt des anschauenden pba_122.006
Genusses oder der gegenwärtigen Situation erhöhen will."

pba_122.007
Alle diese vier Herderschen Arten des Epigramms sind nach pba_122.008
Lessing schlecht, d. h. überhaupt gar keine Epigramme; bei Herder pba_122.009
selbst sind sie sehr zahlreich; wenn er sie aber in der griechischen Anthologie pba_122.010
zu erkennen meinte, so hat er sich und andre getäuscht. Sechs pba_122.011
Beispiele aus derselben dienen ihm, die "Grundform" und das pba_122.012
Wesen dieser Dichtung, also sein "darstellendes" Epigramm zu erweisen: pba_122.013
sie alle zeigen das Gegenteil seiner Theorie!

pba_122.014
Hören wir ihn: "So sind die Epigramme, die Geschenke an die pba_122.015
Götter begleiten, meistens simple Darstellungen dessen, was man dem pba_122.016
Gotte weiht; etwa mit einer Ursache, warum man's ihm weihte, oder pba_122.017
mit einem Wort des Dankes, des Wunsches, der Bitte, der Freude. pba_122.018
War dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen pba_122.019
konnte?"

pba_122.020
""Diesen krummen Bogen und diesen Köcher hängt Promachus dem pba_122.021
Phöbus zum Geschenk auf. Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht pba_122.022
umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bitteres Geschenk.""

pba_122.023
""Dem Glaukus und Nereus, der Jno und dem Melikertes, dem pba_122.024
Zeus der Fluten und den samothrakischen Göttern weiht Lucilius, im pba_122.025
Meere gerettet, sein Haupthaar hier. Weiteres hat er nichts mehr.""

pba_122.026
""Diese jugendlich-blühende Locke seines Hauptes und dies Milchhaar, pba_122.027
den Zeugen kommender männlicher Jahre, weiht Lykon dem pba_122.028
Phöbus, sein erstes Geschenk. Möge er ihm auch einst sein graues Haar pba_122.029
so weihen!""

pba_122.030
"Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender pba_122.031
Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen, was werden pba_122.032
sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?"

pba_122.033
Diese sicherlich nichts mehr. Aber ebenso sicher sagen sie, so wie pba_122.034
sie in der That lauten, mehr und etwas ganz anderes als Herder nun pba_122.035
einmal in ihnen finden will, denn er hat hier wirklich zum Teil das pba_122.036
Offenbare nicht sehen wollen, zum Teil das ihm nicht Passende einfach pba_122.037
fortgelassen.

pba_122.001
Gattung an: 1) die genannte darstellende; 2) das Exempel-Epigramm, pba_122.002
welches derselben nur „eine schlichte Anwendung hinzufügt;“ 3) das pba_122.003
schildernde, welches „ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunkt pba_122.004
ausmalt;“ 4) das leidenschaftliche, welches „einen Gegenstand der pba_122.005
Empfindung gleichfalls bis zu einem höchsten Punkt des anschauenden pba_122.006
Genusses oder der gegenwärtigen Situation erhöhen will.“

pba_122.007
Alle diese vier Herderschen Arten des Epigramms sind nach pba_122.008
Lessing schlecht, d. h. überhaupt gar keine Epigramme; bei Herder pba_122.009
selbst sind sie sehr zahlreich; wenn er sie aber in der griechischen Anthologie pba_122.010
zu erkennen meinte, so hat er sich und andre getäuscht. Sechs pba_122.011
Beispiele aus derselben dienen ihm, die „Grundform“ und das pba_122.012
Wesen dieser Dichtung, also sein „darstellendes“ Epigramm zu erweisen: pba_122.013
sie alle zeigen das Gegenteil seiner Theorie!

pba_122.014
Hören wir ihn: „So sind die Epigramme, die Geschenke an die pba_122.015
Götter begleiten, meistens simple Darstellungen dessen, was man dem pba_122.016
Gotte weiht; etwa mit einer Ursache, warum man's ihm weihte, oder pba_122.017
mit einem Wort des Dankes, des Wunsches, der Bitte, der Freude. pba_122.018
War dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen pba_122.019
konnte?“

pba_122.020
„„Diesen krummen Bogen und diesen Köcher hängt Promachus dem pba_122.021
Phöbus zum Geschenk auf. Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht pba_122.022
umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bitteres Geschenk.““

pba_122.023
„„Dem Glaukus und Nereus, der Jno und dem Melikertes, dem pba_122.024
Zeus der Fluten und den samothrakischen Göttern weiht Lucilius, im pba_122.025
Meere gerettet, sein Haupthaar hier. Weiteres hat er nichts mehr.““

pba_122.026
„„Diese jugendlich-blühende Locke seines Hauptes und dies Milchhaar, pba_122.027
den Zeugen kommender männlicher Jahre, weiht Lykon dem pba_122.028
Phöbus, sein erstes Geschenk. Möge er ihm auch einst sein graues Haar pba_122.029
so weihen!““

pba_122.030
„Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender pba_122.031
Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen, was werden pba_122.032
sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?“

pba_122.033
Diese sicherlich nichts mehr. Aber ebenso sicher sagen sie, so wie pba_122.034
sie in der That lauten, mehr und etwas ganz anderes als Herder nun pba_122.035
einmal in ihnen finden will, denn er hat hier wirklich zum Teil das pba_122.036
Offenbare nicht sehen wollen, zum Teil das ihm nicht Passende einfach pba_122.037
fortgelassen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0140" n="122"/><lb n="pba_122.001"/>
Gattung an: 1) die genannte darstellende; 2) das Exempel-Epigramm, <lb n="pba_122.002"/>
welches derselben nur &#x201E;eine schlichte Anwendung hinzufügt;&#x201C; 3) das <lb n="pba_122.003"/>
schildernde, welches &#x201E;ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunkt <lb n="pba_122.004"/>
ausmalt;&#x201C; 4) das leidenschaftliche, welches &#x201E;einen Gegenstand der <lb n="pba_122.005"/>
Empfindung gleichfalls bis zu einem höchsten Punkt des anschauenden <lb n="pba_122.006"/>
Genusses oder der gegenwärtigen Situation erhöhen will.&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_122.007"/>
Alle diese vier <hi rendition="#g">Herder</hi>schen Arten des Epigramms sind nach <lb n="pba_122.008"/> <hi rendition="#g">Lessing schlecht,</hi> d. h. überhaupt gar keine Epigramme; bei Herder <lb n="pba_122.009"/>
selbst sind sie sehr zahlreich; wenn er sie aber in der griechischen Anthologie <lb n="pba_122.010"/>
zu erkennen meinte, so hat er sich und andre getäuscht. Sechs <lb n="pba_122.011"/>
Beispiele aus derselben dienen ihm, die &#x201E;<hi rendition="#g">Grundform</hi>&#x201C; und das <lb n="pba_122.012"/>
Wesen dieser Dichtung, also sein &#x201E;darstellendes&#x201C; Epigramm zu erweisen: <lb n="pba_122.013"/> <hi rendition="#g">sie alle zeigen das Gegenteil seiner Theorie!</hi></p>
        <p><lb n="pba_122.014"/>
Hören wir ihn: &#x201E;So sind die Epigramme, die Geschenke an die <lb n="pba_122.015"/>
Götter begleiten, meistens simple Darstellungen dessen, was man dem <lb n="pba_122.016"/>
Gotte weiht; etwa mit einer Ursache, warum man's ihm weihte, oder <lb n="pba_122.017"/>
mit einem Wort des Dankes, des Wunsches, der Bitte, der Freude. <lb n="pba_122.018"/>
War dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen <lb n="pba_122.019"/>
konnte?&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_122.020"/>
&#x201E;&#x201E;Diesen krummen Bogen und diesen Köcher hängt Promachus dem <lb n="pba_122.021"/>
Phöbus zum Geschenk auf. Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht <lb n="pba_122.022"/>
umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bitteres Geschenk.&#x201C;&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_122.023"/>
&#x201E;&#x201E;Dem Glaukus und Nereus, der Jno und dem Melikertes, dem <lb n="pba_122.024"/>
Zeus der Fluten und den samothrakischen Göttern weiht Lucilius, im <lb n="pba_122.025"/>
Meere gerettet, sein Haupthaar hier. Weiteres hat er nichts mehr.&#x201C;&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_122.026"/>
&#x201E;&#x201E;Diese jugendlich-blühende Locke seines Hauptes und dies Milchhaar, <lb n="pba_122.027"/>
den Zeugen kommender männlicher Jahre, weiht Lykon dem <lb n="pba_122.028"/>
Phöbus, sein erstes Geschenk. Möge er ihm auch einst sein graues Haar <lb n="pba_122.029"/>
so weihen!&#x201C;&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_122.030"/>
&#x201E;Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender <lb n="pba_122.031"/>
Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen, was werden <lb n="pba_122.032"/>
sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_122.033"/><hi rendition="#g">Diese</hi> sicherlich nichts mehr. Aber ebenso sicher sagen sie, so wie <lb n="pba_122.034"/>
sie in der That lauten, mehr und etwas ganz anderes als Herder nun <lb n="pba_122.035"/>
einmal in ihnen finden will, denn er hat hier wirklich zum Teil das <lb n="pba_122.036"/>
Offenbare nicht sehen wollen, zum Teil das ihm nicht Passende einfach <lb n="pba_122.037"/>
fortgelassen.</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0140] pba_122.001 Gattung an: 1) die genannte darstellende; 2) das Exempel-Epigramm, pba_122.002 welches derselben nur „eine schlichte Anwendung hinzufügt;“ 3) das pba_122.003 schildernde, welches „ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunkt pba_122.004 ausmalt;“ 4) das leidenschaftliche, welches „einen Gegenstand der pba_122.005 Empfindung gleichfalls bis zu einem höchsten Punkt des anschauenden pba_122.006 Genusses oder der gegenwärtigen Situation erhöhen will.“ pba_122.007 Alle diese vier Herderschen Arten des Epigramms sind nach pba_122.008 Lessing schlecht, d. h. überhaupt gar keine Epigramme; bei Herder pba_122.009 selbst sind sie sehr zahlreich; wenn er sie aber in der griechischen Anthologie pba_122.010 zu erkennen meinte, so hat er sich und andre getäuscht. Sechs pba_122.011 Beispiele aus derselben dienen ihm, die „Grundform“ und das pba_122.012 Wesen dieser Dichtung, also sein „darstellendes“ Epigramm zu erweisen: pba_122.013 sie alle zeigen das Gegenteil seiner Theorie! pba_122.014 Hören wir ihn: „So sind die Epigramme, die Geschenke an die pba_122.015 Götter begleiten, meistens simple Darstellungen dessen, was man dem pba_122.016 Gotte weiht; etwa mit einer Ursache, warum man's ihm weihte, oder pba_122.017 mit einem Wort des Dankes, des Wunsches, der Bitte, der Freude. pba_122.018 War dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen pba_122.019 konnte?“ pba_122.020 „„Diesen krummen Bogen und diesen Köcher hängt Promachus dem pba_122.021 Phöbus zum Geschenk auf. Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht pba_122.022 umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bitteres Geschenk.““ pba_122.023 „„Dem Glaukus und Nereus, der Jno und dem Melikertes, dem pba_122.024 Zeus der Fluten und den samothrakischen Göttern weiht Lucilius, im pba_122.025 Meere gerettet, sein Haupthaar hier. Weiteres hat er nichts mehr.““ pba_122.026 „„Diese jugendlich-blühende Locke seines Hauptes und dies Milchhaar, pba_122.027 den Zeugen kommender männlicher Jahre, weiht Lykon dem pba_122.028 Phöbus, sein erstes Geschenk. Möge er ihm auch einst sein graues Haar pba_122.029 so weihen!““ pba_122.030 „Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender pba_122.031 Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen, was werden pba_122.032 sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?“ pba_122.033 Diese sicherlich nichts mehr. Aber ebenso sicher sagen sie, so wie pba_122.034 sie in der That lauten, mehr und etwas ganz anderes als Herder nun pba_122.035 einmal in ihnen finden will, denn er hat hier wirklich zum Teil das pba_122.036 Offenbare nicht sehen wollen, zum Teil das ihm nicht Passende einfach pba_122.037 fortgelassen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/140
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/140>, abgerufen am 26.04.2024.