evangelisten Rathenau "Mechanik des Geistes" ("Ethik der Seele", "Aesthetik der Seele", "Pragmatik der Seele"), um einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren- gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss- reicher Weitschweifigkeit.
Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation, sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit, statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano- nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn er sagt: "Es scheint, als hätten im Abendland immer nur einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig, anarchisch oder tyrannisch, "Hintergedanken", ein Umweg, parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten"24).
2.
Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas- sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als die der Nachbarvölker 25). Derselbe Treitschke weiss aber sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen Krieges "der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde hauste"; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich "freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied"; dass dieser Krieg "zwei Drittel der Nation" hinwegraffte, und dass "das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und Armut ein gedrücktes Leben führte", "nichts mehr von der alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von
evangelisten Rathenau „Mechanik des Geistes“ („Ethik der Seele“, „Aesthetik der Seele“, „Pragmatik der Seele“), um einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren- gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss- reicher Weitschweifigkeit.
Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation, sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit, statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano- nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn er sagt: „Es scheint, als hätten im Abendland immer nur einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig, anarchisch oder tyrannisch, „Hintergedanken“, ein Umweg, parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten“24).
2.
Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas- sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als die der Nachbarvölker 25). Derselbe Treitschke weiss aber sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen Krieges „der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde hauste“; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich „freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied“; dass dieser Krieg „zwei Drittel der Nation“ hinwegraffte, und dass „das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und Armut ein gedrücktes Leben führte“, „nichts mehr von der alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0069"n="61"/>
evangelisten Rathenau „Mechanik des Geistes“ („Ethik der<lb/>
Seele“, „Aesthetik der Seele“, „Pragmatik der Seele“), um<lb/>
einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren-<lb/>
gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast<lb/>
zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig<lb/>
zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss-<lb/>
reicher Weitschweifigkeit.</p><lb/><p>Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein<lb/>
wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein<lb/>
Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation,<lb/>
sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein<lb/>
Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker<lb/>
aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit,<lb/>
statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano-<lb/>
nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn<lb/>
er sagt: „Es scheint, als hätten im Abendland immer nur<lb/>
einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und<lb/>
als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären<lb/>
ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig,<lb/>
anarchisch oder tyrannisch, „Hintergedanken“, ein Umweg,<lb/>
parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten“<notexml:id="id24b"next="id24b24b"place="end"n="24)"/>.</p><lb/></div><divn="2"><head>2.</head><lb/><p>Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas-<lb/>
sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als<lb/>
die der Nachbarvölker <notexml:id="id25b"next="id25b25b"place="end"n="25)"/>. Derselbe Treitschke weiss aber<lb/>
sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen<lb/>
Krieges „der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde<lb/>
hauste“; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich<lb/>„freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied“; dass<lb/>
dieser Krieg „zwei Drittel der Nation“ hinwegraffte, und<lb/>
dass „das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und<lb/>
Armut ein gedrücktes Leben führte“, „nichts mehr von der<lb/>
alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[61/0069]
evangelisten Rathenau „Mechanik des Geistes“ („Ethik der
Seele“, „Aesthetik der Seele“, „Pragmatik der Seele“), um
einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren-
gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast
zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig
zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss-
reicher Weitschweifigkeit.
Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein
wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein
Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation,
sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein
Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker
aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit,
statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano-
nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn
er sagt: „Es scheint, als hätten im Abendland immer nur
einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und
als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären
ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig,
anarchisch oder tyrannisch, „Hintergedanken“, ein Umweg,
parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten“
²⁴⁾
.
2.
Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas-
sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als
die der Nachbarvölker
²⁵⁾
. Derselbe Treitschke weiss aber
sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen
Krieges „der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde
hauste“; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich
„freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied“; dass
dieser Krieg „zwei Drittel der Nation“ hinwegraffte, und
dass „das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und
Armut ein gedrücktes Leben führte“, „nichts mehr von der
alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/69>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.