Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

und Räsonnement. Mit der Theorie von der "selbsttätigen
Entwicklung" aber beschwichtigte er sogar das neue Ereignis
des 19. Jahrhunderts, das revolutionäre Proletariat. "Selbsttätige
Entwicklung", das war so bequem und verlangte keine
Frondierung! Einer verlässt sich auf den andern. Alle
erwarten's vom Ganzen, keiner von sich. Indem Hegel nichts
vernünftiger erscheinen liess als das ganz und gar Absurde,
zog er die von Frankreich ermunterten "Jungdeutschen" in
ein pragmatisches Verhältnis zu demselben Staate, der diese
Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, wie Kriminelle
in seine "Erziehungsanstalt", die Armee abschob. Das alles
aber mit dem dünkelhaften Selbstbewusstsein eines weltseelen-
vergnügten Kathederheldentums, dessen Ja- und Amen-
sagender Opportunismus für Pedelle leichter zu durchschauen
war als für biderbe Hörer.

10.

Und hier ergibt sich das Problem der deutschen Uni-
versität und Staatspragmatik, dessen wahrhaft regenerative
Lösung den völligen Zusammenbruch des jetzigen Reichs-
systems, den demokratischen Völkerbund und einen beratenden
Kongress der intellektuellen Partei aller Länder voraussetzt.

Nur eine grosszügig eingeleitete Restituierung der
ursprünglichen evangelischen Tradition, eine durchgreifende
Internationalisierung der Lehrstühle und der lebhafteste Aus-
tausch wissenschaftlicher Autoritäten aller Länder würde den
Begriff der Universität überhaupt und das Wiederaufblühen
der moralischen und wissenschaftlichen Bildungsanstalten
Deutschlands im besonderen garantieren 192). Die jahrhunderte-
lange Abhängigkeit unserer Universitäten von absolutistischen
barbarischen Höfen, Abhängigkeit zuletzt von einer Militär-
despotie, der alle speichelleckend sich boten, hat in deut-
schen Köpfen zu einer Konfusion der religiösen und frei-
heitlichen Ueberzeugungen geführt, von der nur derjenige

und Räsonnement. Mit der Theorie von der „selbsttätigen
Entwicklung“ aber beschwichtigte er sogar das neue Ereignis
des 19. Jahrhunderts, das revolutionäre Proletariat. „Selbsttätige
Entwicklung“, das war so bequem und verlangte keine
Frondierung! Einer verlässt sich auf den andern. Alle
erwarten's vom Ganzen, keiner von sich. Indem Hegel nichts
vernünftiger erscheinen liess als das ganz und gar Absurde,
zog er die von Frankreich ermunterten „Jungdeutschen“ in
ein pragmatisches Verhältnis zu demselben Staate, der diese
Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, wie Kriminelle
in seine „Erziehungsanstalt“, die Armee abschob. Das alles
aber mit dem dünkelhaften Selbstbewusstsein eines weltseelen-
vergnügten Kathederheldentums, dessen Ja- und Amen-
sagender Opportunismus für Pedelle leichter zu durchschauen
war als für biderbe Hörer.

10.

Und hier ergibt sich das Problem der deutschen Uni-
versität und Staatspragmatik, dessen wahrhaft regenerative
Lösung den völligen Zusammenbruch des jetzigen Reichs-
systems, den demokratischen Völkerbund und einen beratenden
Kongress der intellektuellen Partei aller Länder voraussetzt.

Nur eine grosszügig eingeleitete Restituierung der
ursprünglichen evangelischen Tradition, eine durchgreifende
Internationalisierung der Lehrstühle und der lebhafteste Aus-
tausch wissenschaftlicher Autoritäten aller Länder würde den
Begriff der Universität überhaupt und das Wiederaufblühen
der moralischen und wissenschaftlichen Bildungsanstalten
Deutschlands im besonderen garantieren 192). Die jahrhunderte-
lange Abhängigkeit unserer Universitäten von absolutistischen
barbarischen Höfen, Abhängigkeit zuletzt von einer Militär-
despotie, der alle speichelleckend sich boten, hat in deut-
schen Köpfen zu einer Konfusion der religiösen und frei-
heitlichen Ueberzeugungen geführt, von der nur derjenige

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0127" n="119"/>
und Räsonnement. Mit der Theorie von der &#x201E;selbsttätigen<lb/>
Entwicklung&#x201C; aber beschwichtigte er sogar das neue Ereignis<lb/>
des 19. Jahrhunderts, das revolutionäre Proletariat. &#x201E;Selbsttätige<lb/>
Entwicklung&#x201C;, das war so bequem und verlangte keine<lb/>
Frondierung! Einer verlässt sich auf den andern. Alle<lb/>
erwarten's vom Ganzen, keiner von sich. Indem Hegel nichts<lb/>
vernünftiger erscheinen liess als das ganz und gar Absurde,<lb/>
zog er die von Frankreich ermunterten &#x201E;Jungdeutschen&#x201C; in<lb/>
ein pragmatisches Verhältnis zu demselben Staate, der diese<lb/>
Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, wie Kriminelle<lb/>
in seine &#x201E;Erziehungsanstalt&#x201C;, die Armee abschob. Das alles<lb/>
aber mit dem dünkelhaften Selbstbewusstsein eines weltseelen-<lb/>
vergnügten Kathederheldentums, dessen Ja- und Amen-<lb/>
sagender Opportunismus für Pedelle leichter zu durchschauen<lb/>
war als für biderbe Hörer.</p><lb/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>10.</head><lb/>
          <p>Und hier ergibt sich das Problem der deutschen Uni-<lb/>
versität und Staatspragmatik, dessen wahrhaft regenerative<lb/>
Lösung den völligen Zusammenbruch des jetzigen Reichs-<lb/>
systems, den demokratischen Völkerbund und einen beratenden<lb/>
Kongress der intellektuellen Partei aller Länder voraussetzt.</p><lb/>
          <p>Nur eine grosszügig eingeleitete Restituierung der<lb/>
ursprünglichen evangelischen Tradition, eine durchgreifende<lb/>
Internationalisierung der Lehrstühle und der lebhafteste Aus-<lb/>
tausch wissenschaftlicher Autoritäten aller Länder würde den<lb/>
Begriff der Universität überhaupt und das Wiederaufblühen<lb/>
der moralischen und wissenschaftlichen Bildungsanstalten<lb/>
Deutschlands im besonderen garantieren <note xml:id="id192b" next="id192b192b" place="end" n="192)"/>. Die jahrhunderte-<lb/>
lange Abhängigkeit unserer Universitäten von absolutistischen<lb/>
barbarischen Höfen, Abhängigkeit zuletzt von einer Militär-<lb/>
despotie, der alle speichelleckend sich boten, hat in deut-<lb/>
schen Köpfen zu einer Konfusion der religiösen und frei-<lb/>
heitlichen Ueberzeugungen geführt, von der nur derjenige<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0127] und Räsonnement. Mit der Theorie von der „selbsttätigen Entwicklung“ aber beschwichtigte er sogar das neue Ereignis des 19. Jahrhunderts, das revolutionäre Proletariat. „Selbsttätige Entwicklung“, das war so bequem und verlangte keine Frondierung! Einer verlässt sich auf den andern. Alle erwarten's vom Ganzen, keiner von sich. Indem Hegel nichts vernünftiger erscheinen liess als das ganz und gar Absurde, zog er die von Frankreich ermunterten „Jungdeutschen“ in ein pragmatisches Verhältnis zu demselben Staate, der diese Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, wie Kriminelle in seine „Erziehungsanstalt“, die Armee abschob. Das alles aber mit dem dünkelhaften Selbstbewusstsein eines weltseelen- vergnügten Kathederheldentums, dessen Ja- und Amen- sagender Opportunismus für Pedelle leichter zu durchschauen war als für biderbe Hörer. 10. Und hier ergibt sich das Problem der deutschen Uni- versität und Staatspragmatik, dessen wahrhaft regenerative Lösung den völligen Zusammenbruch des jetzigen Reichs- systems, den demokratischen Völkerbund und einen beratenden Kongress der intellektuellen Partei aller Länder voraussetzt. Nur eine grosszügig eingeleitete Restituierung der ursprünglichen evangelischen Tradition, eine durchgreifende Internationalisierung der Lehrstühle und der lebhafteste Aus- tausch wissenschaftlicher Autoritäten aller Länder würde den Begriff der Universität überhaupt und das Wiederaufblühen der moralischen und wissenschaftlichen Bildungsanstalten Deutschlands im besonderen garantieren ¹⁹²⁾ . Die jahrhunderte- lange Abhängigkeit unserer Universitäten von absolutistischen barbarischen Höfen, Abhängigkeit zuletzt von einer Militär- despotie, der alle speichelleckend sich boten, hat in deut- schen Köpfen zu einer Konfusion der religiösen und frei- heitlichen Ueberzeugungen geführt, von der nur derjenige

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/127
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/127>, abgerufen am 03.12.2024.