außer Dir. -- Außer der Sonne, die den Thautropfen in sich fasset soll er nichts fassen. -- Jede Blüthe, die sich dem Lichte öffnet fasset einen Thautropfen, der das Bild der wärmenden belebenden Kraft aufnimmt; aber Stamm und Wurzel sind belastet mit der finsteren fe- sten Erde; und wenn die Blüthe keine Wurzel hätte, so hätte sie wohl Flügel. --
Heute ist so warm, heute sei ergeben in die Gedan- ken die Dir dies Papier bringt. Zeit und Raum laß weichen zwischen unsern Herzen, und wenns so ist dann hab ich keine Bitte mehr, denn da muß das Herz ver- stummen.
Bettine.
Von Goethes Hand auf diesen Brief geschrieben: Empfangen
den 4. Juli 1822.
An Goethe.
Schon oft hab ich mich im Geist vorbereitet Dir zu schreiben, aber Gedanken und Empfindungen, wie die Sprache sie nicht ausdrücken kann, erfüllen die Seele, und sie vermag nicht ihr Schweigen zu brechen.
So ist denn die Wahrheit eine Muse, die das Kunstgebilde ihrer Melodieen zwar in dem den sie durch-
außer Dir. — Außer der Sonne, die den Thautropfen in ſich faſſet ſoll er nichts faſſen. — Jede Blüthe, die ſich dem Lichte öffnet faſſet einen Thautropfen, der das Bild der wärmenden belebenden Kraft aufnimmt; aber Stamm und Wurzel ſind belaſtet mit der finſteren fe- ſten Erde; und wenn die Blüthe keine Wurzel hätte, ſo hätte ſie wohl Flügel. —
Heute iſt ſo warm, heute ſei ergeben in die Gedan- ken die Dir dies Papier bringt. Zeit und Raum laß weichen zwiſchen unſern Herzen, und wenns ſo iſt dann hab ich keine Bitte mehr, denn da muß das Herz ver- ſtummen.
Bettine.
Von Goethes Hand auf dieſen Brief geſchrieben: Empfangen
den 4. Juli 1822.
An Goethe.
Schon oft hab ich mich im Geiſt vorbereitet Dir zu ſchreiben, aber Gedanken und Empfindungen, wie die Sprache ſie nicht ausdrücken kann, erfüllen die Seele, und ſie vermag nicht ihr Schweigen zu brechen.
So iſt denn die Wahrheit eine Muſe, die das Kunſtgebilde ihrer Melodieen zwar in dem den ſie durch-
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außer Dir. — Außer der Sonne, die den Thautropfen
in ſich faſſet ſoll er nichts faſſen. — Jede Blüthe, die
ſich dem Lichte öffnet faſſet einen Thautropfen, der das
Bild der wärmenden belebenden Kraft aufnimmt; aber
Stamm und Wurzel ſind belaſtet mit der finſteren fe-
ſten Erde; und wenn die Blüthe keine Wurzel hätte,
ſo hätte ſie wohl Flügel. —
Heute iſt ſo warm, heute ſei ergeben in die Gedan-
ken die Dir dies Papier bringt. Zeit und Raum laß
weichen zwiſchen unſern Herzen, und wenns ſo iſt dann
hab ich keine Bitte mehr, denn da muß das Herz ver-
ſtummen.
Bettine.
Von Goethes Hand auf dieſen Brief geſchrieben:
Empfangen
den 4. Juli 1822.
An Goethe.
Schon oft hab ich mich im Geiſt vorbereitet Dir
zu ſchreiben, aber Gedanken und Empfindungen, wie
die Sprache ſie nicht ausdrücken kann, erfüllen die Seele,
und ſie vermag nicht ihr Schweigen zu brechen.
So iſt denn die Wahrheit eine Muſe, die das
Kunſtgebilde ihrer Melodieen zwar in dem den ſie durch-
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/320>, abgerufen am 22.02.2025.
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