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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806.

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Ulrich und Aennchen.

Herders Volkslieder. I. 79.

Es ritt einst Ulrich spazieren aus,
Er ritt wohl vor lieb Aennchens Haus:
"Lieb Aennchen, willst mit in grünen Wald?
"Ich will dir lehren den Vogelsang."
Sie gingen wohl mit einander fort,
Sie kamen an eine Hasel dort,
Sie kamen ein Fleckchen weiter hin,
Sie kamen auf eine Wiese grün.
Er führte sie ins grüne Gras,
Er bat, lieb Aennchen niedersaß,
Er legt seinen Kopf in ihren Schoos,
Mit heißen Thränen sie ihn begoß.
"Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,
"Warum weinst du denn so sehr um ein'n?
"Weinst irgend um deines Vaters Gut?
"Oder weinest um dein junges Blut?
"Oder bin ich dir nicht schön genug?"
"Ich weine nicht um meines Vaters Gut,
"Ich wein' auch nicht um mein junges Blut,
"Und, Ulrich, bist mir auch schön genug.
"Da droben auf jener Tannen,
"Eilf Jungfrauen sah ich hangen."
"Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,
"Wie bald sollst du die zwölfte seyn."

Ulrich und Aennchen.

Herders Volkslieder. I. 79.

Es ritt einſt Ulrich ſpazieren aus,
Er ritt wohl vor lieb Aennchens Haus:
„Lieb Aennchen, willſt mit in gruͤnen Wald?
„Ich will dir lehren den Vogelſang.“
Sie gingen wohl mit einander fort,
Sie kamen an eine Haſel dort,
Sie kamen ein Fleckchen weiter hin,
Sie kamen auf eine Wieſe gruͤn.
Er fuͤhrte ſie ins gruͤne Gras,
Er bat, lieb Aennchen niederſaß,
Er legt ſeinen Kopf in ihren Schoos,
Mit heißen Thraͤnen ſie ihn begoß.
„Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,
„Warum weinſt du denn ſo ſehr um ein'n?
„Weinſt irgend um deines Vaters Gut?
„Oder weineſt um dein junges Blut?
„Oder bin ich dir nicht ſchoͤn genug?“
„Ich weine nicht um meines Vaters Gut,
„Ich wein' auch nicht um mein junges Blut,
„Und, Ulrich, biſt mir auch ſchoͤn genug.
„Da droben auf jener Tannen,
„Eilf Jungfrauen ſah ich hangen.“
„Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,
„Wie bald ſollſt du die zwoͤlfte ſeyn.“

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[274[284]/0293] Ulrich und Aennchen. Herders Volkslieder. I. 79. Es ritt einſt Ulrich ſpazieren aus, Er ritt wohl vor lieb Aennchens Haus: „Lieb Aennchen, willſt mit in gruͤnen Wald? „Ich will dir lehren den Vogelſang.“ Sie gingen wohl mit einander fort, Sie kamen an eine Haſel dort, Sie kamen ein Fleckchen weiter hin, Sie kamen auf eine Wieſe gruͤn. Er fuͤhrte ſie ins gruͤne Gras, Er bat, lieb Aennchen niederſaß, Er legt ſeinen Kopf in ihren Schoos, Mit heißen Thraͤnen ſie ihn begoß. „Ach Aennchen, liebes Aennchen mein, „Warum weinſt du denn ſo ſehr um ein'n? „Weinſt irgend um deines Vaters Gut? „Oder weineſt um dein junges Blut? „Oder bin ich dir nicht ſchoͤn genug?“ „Ich weine nicht um meines Vaters Gut, „Ich wein' auch nicht um mein junges Blut, „Und, Ulrich, biſt mir auch ſchoͤn genug. „Da droben auf jener Tannen, „Eilf Jungfrauen ſah ich hangen.“ „Ach Aennchen, liebes Aennchen mein, „Wie bald ſollſt du die zwoͤlfte ſeyn.“

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Zitationshilfe: Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 274[284]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/293>, abgerufen am 30.12.2024.