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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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Siegfried M., 33 Jahre alt, Kaufmann, beiderseitige Spitzeninfil-
tration, starke Abmagerung. Kein Gaumenreflex.

Anna E., 28 Jahre alt. Gastwirtin, leidet alljährlich mehrmals an
Angina tonsillaris. Ein Bruder ist an Tuberkulose gestorben, der Vater
leidet an Emphysem. Patientin hat gesunde Lungen. Über der linken
Klavikula ein Naevus pigmentosus. Ein Onkel der Patientin väter-
licherseits ist ein gefürchteter Dauerredner, der viel in Versammlungen
spricht. Patientin zeigt Mangel des Gaumenreflexes. Rachenreflex
normal.

Ich habe des öfteren darauf hingewiesen, daß ich den Diabetes
mellitus sowie die meisten der Glykosurien als Erkrankung des minder-
wertigen Ernährungsapparates, speziell des minderwertigen Pankreas
und der Leber anzusehen bemüßigt bin. Ich verweise nochmals auf
die Heredität bei dieser Affektion, auf den Zusammenhang mit Darm-
erkrankungen des Patienten und seiner Anverwandten, auf das Auf-
treten von Psychosen und Neurosen bei Diabetikern und ihren Familien-
mitgliedern, auf äußere Stigmen und Kinderfehler in der Anamnese.
Hier kann ich noch hinzufügen, daß ich an einer kleinen Zahl von
Fällen die Überzeugung gewann, daß die Reflexfähigkeit des Gaumens
bei Glykosurie und Diabetes die gleichen Anomalien aufweist wie bei
anderen Erkrankungen des minderwertigen Magendarmtraktes; der
Gaumenreflex ist gewöhnlich verschwunden, und dieser Mangel muß
als Zeichen der Organminderwertigkeit gelten. Das Fehlen des Patellar-
sehnenreflexes bei Diabetikern hat wohl eine andere Bedeutung, näm-
lich die eines Zeichens der segmentalen Minderwertigkeit.

Ich lasse die Fälle von Diabetes folgen, wie sie mir in der letzten
Zeit untergekommen sind:

David W., 25 Jahre alt, Student, hat in jüngeren Jahren an
hartnäckiger Obstipation gelitten. Vor 4 Jahren wurde sein Diabetes
entdeckt, der mit großen Zuckerausscheidungen, zeitweiser Azetonurie
und Azetessigsäureausscheidung einherging. Toleranz sehr gering. In
der Familie kein weiterer Fall von Diabetes. Der Vater litt an An-
fällen von monatelanger Dauer, bei denen er nicht gehen, noch sprechen
konnte. Eine Schwester litt vorübergehend an einer Psychose. Patient
lispelt noch heute recht auffällig. Die Patellarsehnenreflexe sind beider-
seits stark herabgesetzt, Gaumen- und Rachenreflex fehlt.

Margit B., bei II. besprochen; Obstipation bis in die früheste
Kindheit reichend, Sprachfehler, Singultusanfälle in der Pubertät,
hysterische Angst. Kein Gaumenreflex, sehr abgeschwächter Rachen-
reflex. Vater an Diabetes gestorben. Bruder litt bis ins 12. Jahr an

Siegfried M., 33 Jahre alt, Kaufmann, beiderseitige Spitzeninfil-
tration, starke Abmagerung. Kein Gaumenreflex.

Anna E., 28 Jahre alt. Gastwirtin, leidet alljährlich mehrmals an
Angina tonsillaris. Ein Bruder ist an Tuberkulose gestorben, der Vater
leidet an Emphysem. Patientin hat gesunde Lungen. Über der linken
Klavikula ein Naevus pigmentosus. Ein Onkel der Patientin väter-
licherseits ist ein gefürchteter Dauerredner, der viel in Versammlungen
spricht. Patientin zeigt Mangel des Gaumenreflexes. Rachenreflex
normal.

Ich habe des öfteren darauf hingewiesen, daß ich den Diabetes
mellitus sowie die meisten der Glykosurien als Erkrankung des minder-
wertigen Ernährungsapparates, speziell des minderwertigen Pankreas
und der Leber anzusehen bemüßigt bin. Ich verweise nochmals auf
die Heredität bei dieser Affektion, auf den Zusammenhang mit Darm-
erkrankungen des Patienten und seiner Anverwandten, auf das Auf-
treten von Psychosen und Neurosen bei Diabetikern und ihren Familien-
mitgliedern, auf äußere Stigmen und Kinderfehler in der Anamnese.
Hier kann ich noch hinzufügen, daß ich an einer kleinen Zahl von
Fällen die Überzeugung gewann, daß die Reflexfähigkeit des Gaumens
bei Glykosurie und Diabetes die gleichen Anomalien aufweist wie bei
anderen Erkrankungen des minderwertigen Magendarmtraktes; der
Gaumenreflex ist gewöhnlich verschwunden, und dieser Mangel muß
als Zeichen der Organminderwertigkeit gelten. Das Fehlen des Patellar-
sehnenreflexes bei Diabetikern hat wohl eine andere Bedeutung, näm-
lich die eines Zeichens der segmentalen Minderwertigkeit.

Ich lasse die Fälle von Diabetes folgen, wie sie mir in der letzten
Zeit untergekommen sind:

David W., 25 Jahre alt, Student, hat in jüngeren Jahren an
hartnäckiger Obstipation gelitten. Vor 4 Jahren wurde sein Diabetes
entdeckt, der mit großen Zuckerausscheidungen, zeitweiser Azetonurie
und Azetessigsäureausscheidung einherging. Toleranz sehr gering. In
der Familie kein weiterer Fall von Diabetes. Der Vater litt an An-
fällen von monatelanger Dauer, bei denen er nicht gehen, noch sprechen
konnte. Eine Schwester litt vorübergehend an einer Psychose. Patient
lispelt noch heute recht auffällig. Die Patellarsehnenreflexe sind beider-
seits stark herabgesetzt, Gaumen- und Rachenreflex fehlt.

Margit B., bei II. besprochen; Obstipation bis in die früheste
Kindheit reichend, Sprachfehler, Singultusanfälle in der Pubertät,
hysterische Angst. Kein Gaumenreflex, sehr abgeschwächter Rachen-
reflex. Vater an Diabetes gestorben. Bruder litt bis ins 12. Jahr an

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[53/0065] Siegfried M., 33 Jahre alt, Kaufmann, beiderseitige Spitzeninfil- tration, starke Abmagerung. Kein Gaumenreflex. Anna E., 28 Jahre alt. Gastwirtin, leidet alljährlich mehrmals an Angina tonsillaris. Ein Bruder ist an Tuberkulose gestorben, der Vater leidet an Emphysem. Patientin hat gesunde Lungen. Über der linken Klavikula ein Naevus pigmentosus. Ein Onkel der Patientin väter- licherseits ist ein gefürchteter Dauerredner, der viel in Versammlungen spricht. Patientin zeigt Mangel des Gaumenreflexes. Rachenreflex normal. Ich habe des öfteren darauf hingewiesen, daß ich den Diabetes mellitus sowie die meisten der Glykosurien als Erkrankung des minder- wertigen Ernährungsapparates, speziell des minderwertigen Pankreas und der Leber anzusehen bemüßigt bin. Ich verweise nochmals auf die Heredität bei dieser Affektion, auf den Zusammenhang mit Darm- erkrankungen des Patienten und seiner Anverwandten, auf das Auf- treten von Psychosen und Neurosen bei Diabetikern und ihren Familien- mitgliedern, auf äußere Stigmen und Kinderfehler in der Anamnese. Hier kann ich noch hinzufügen, daß ich an einer kleinen Zahl von Fällen die Überzeugung gewann, daß die Reflexfähigkeit des Gaumens bei Glykosurie und Diabetes die gleichen Anomalien aufweist wie bei anderen Erkrankungen des minderwertigen Magendarmtraktes; der Gaumenreflex ist gewöhnlich verschwunden, und dieser Mangel muß als Zeichen der Organminderwertigkeit gelten. Das Fehlen des Patellar- sehnenreflexes bei Diabetikern hat wohl eine andere Bedeutung, näm- lich die eines Zeichens der segmentalen Minderwertigkeit. Ich lasse die Fälle von Diabetes folgen, wie sie mir in der letzten Zeit untergekommen sind: David W., 25 Jahre alt, Student, hat in jüngeren Jahren an hartnäckiger Obstipation gelitten. Vor 4 Jahren wurde sein Diabetes entdeckt, der mit großen Zuckerausscheidungen, zeitweiser Azetonurie und Azetessigsäureausscheidung einherging. Toleranz sehr gering. In der Familie kein weiterer Fall von Diabetes. Der Vater litt an An- fällen von monatelanger Dauer, bei denen er nicht gehen, noch sprechen konnte. Eine Schwester litt vorübergehend an einer Psychose. Patient lispelt noch heute recht auffällig. Die Patellarsehnenreflexe sind beider- seits stark herabgesetzt, Gaumen- und Rachenreflex fehlt. Margit B., bei II. besprochen; Obstipation bis in die früheste Kindheit reichend, Sprachfehler, Singultusanfälle in der Pubertät, hysterische Angst. Kein Gaumenreflex, sehr abgeschwächter Rachen- reflex. Vater an Diabetes gestorben. Bruder litt bis ins 12. Jahr an

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/65>, abgerufen am 26.04.2024.