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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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Einleitung.
sind, das eine selbständige, von metaphysischen Theorien
unabhängige Psychologie als seine allgemeine Grundlage
fordert.

Die zweite, die empirische Definition, die in der Psy-
chologie eine "Wissenschaft der innern Erfahrung" sieht, ist
deshalb unzulänglich, weil sie das Missverständniss erwecken
kann, als habe sich diese mit Gegenständen zu beschäftigen,
die von denen der so genannten "äußeren Erfahrung" durch-
gängig verschieden seien. Nun ist es zwar richtig, dass
es Erfahrungsinhalte gibt, die der psychologischen Unter-
suchung zufallen, während sie unter den Objecten und
Vorgängen derjenigen Erfahrung, mit der sich die Natur-
forschung beschäftigt, nicht vorkommen: so unsere Ge-
fühle, Affecte, Willensentschlüsse. Dagegen gibt es keine
einzige Naturerscheinung, die nicht auch unter einem ver-
änderten Gesichtspunkt Gegenstand psychologischer Unter-
suchung sein könnte. Ein Stein, eine Pflanze, ein Ton, ein
Lichtstrahl sind als Naturerscheinungen Objecte der Mine-
ralogie, Botanik, Physik u. s. w. Aber insofern diese Natur-
erscheinungen Vorstellungen in uns erwecken, sind sie
zugleich Objecte der Psychologie, die über die Entstehungs-
weise dieser Vorstellungen und über ihr Verhältniss zu an-
dern Vorstellungen sowie zu den nicht auf äußere Gegen-
stände bezogenen Vorgängen, den Gefühlen, Willens-
regungen u. s. w., Rechenschaft zu geben sucht. Einen
"inneren Sinn", der als Organ der psychischen Wahrnehmung
den äußeren Sinnen als den Organen der Naturerkenntniss
gegenübergestellt werden könnte, gibt es demnach über-
haupt nicht. Die Vorstellungen, deren Eigenschaften die
Psychologie zu erforschen sucht, entstehen gerade so gut
mit Hülfe der äußeren Sinne wie die Wahrnehmungen, von
denen die Naturforschung ausgeht; und die subjectiven Re-
gungen, die bei der naturwissenschaftlichen Auffassung der

Einleitung.
sind, das eine selbständige, von metaphysischen Theorien
unabhängige Psychologie als seine allgemeine Grundlage
fordert.

Die zweite, die empirische Definition, die in der Psy-
chologie eine »Wissenschaft der innern Erfahrung« sieht, ist
deshalb unzulänglich, weil sie das Missverständniss erwecken
kann, als habe sich diese mit Gegenständen zu beschäftigen,
die von denen der so genannten »äußeren Erfahrung« durch-
gängig verschieden seien. Nun ist es zwar richtig, dass
es Erfahrungsinhalte gibt, die der psychologischen Unter-
suchung zufallen, während sie unter den Objecten und
Vorgängen derjenigen Erfahrung, mit der sich die Natur-
forschung beschäftigt, nicht vorkommen: so unsere Ge-
fühle, Affecte, Willensentschlüsse. Dagegen gibt es keine
einzige Naturerscheinung, die nicht auch unter einem ver-
änderten Gesichtspunkt Gegenstand psychologischer Unter-
suchung sein könnte. Ein Stein, eine Pflanze, ein Ton, ein
Lichtstrahl sind als Naturerscheinungen Objecte der Mine-
ralogie, Botanik, Physik u. s. w. Aber insofern diese Natur-
erscheinungen Vorstellungen in uns erwecken, sind sie
zugleich Objecte der Psychologie, die über die Entstehungs-
weise dieser Vorstellungen und über ihr Verhältniss zu an-
dern Vorstellungen sowie zu den nicht auf äußere Gegen-
stände bezogenen Vorgängen, den Gefühlen, Willens-
regungen u. s. w., Rechenschaft zu geben sucht. Einen
»inneren Sinn«, der als Organ der psychischen Wahrnehmung
den äußeren Sinnen als den Organen der Naturerkenntniss
gegenübergestellt werden könnte, gibt es demnach über-
haupt nicht. Die Vorstellungen, deren Eigenschaften die
Psychologie zu erforschen sucht, entstehen gerade so gut
mit Hülfe der äußeren Sinne wie die Wahrnehmungen, von
denen die Naturforschung ausgeht; und die subjectiven Re-
gungen, die bei der naturwissenschaftlichen Auffassung der

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[2/0018] Einleitung. sind, das eine selbständige, von metaphysischen Theorien unabhängige Psychologie als seine allgemeine Grundlage fordert. Die zweite, die empirische Definition, die in der Psy- chologie eine »Wissenschaft der innern Erfahrung« sieht, ist deshalb unzulänglich, weil sie das Missverständniss erwecken kann, als habe sich diese mit Gegenständen zu beschäftigen, die von denen der so genannten »äußeren Erfahrung« durch- gängig verschieden seien. Nun ist es zwar richtig, dass es Erfahrungsinhalte gibt, die der psychologischen Unter- suchung zufallen, während sie unter den Objecten und Vorgängen derjenigen Erfahrung, mit der sich die Natur- forschung beschäftigt, nicht vorkommen: so unsere Ge- fühle, Affecte, Willensentschlüsse. Dagegen gibt es keine einzige Naturerscheinung, die nicht auch unter einem ver- änderten Gesichtspunkt Gegenstand psychologischer Unter- suchung sein könnte. Ein Stein, eine Pflanze, ein Ton, ein Lichtstrahl sind als Naturerscheinungen Objecte der Mine- ralogie, Botanik, Physik u. s. w. Aber insofern diese Natur- erscheinungen Vorstellungen in uns erwecken, sind sie zugleich Objecte der Psychologie, die über die Entstehungs- weise dieser Vorstellungen und über ihr Verhältniss zu an- dern Vorstellungen sowie zu den nicht auf äußere Gegen- stände bezogenen Vorgängen, den Gefühlen, Willens- regungen u. s. w., Rechenschaft zu geben sucht. Einen »inneren Sinn«, der als Organ der psychischen Wahrnehmung den äußeren Sinnen als den Organen der Naturerkenntniss gegenübergestellt werden könnte, gibt es demnach über- haupt nicht. Die Vorstellungen, deren Eigenschaften die Psychologie zu erforschen sucht, entstehen gerade so gut mit Hülfe der äußeren Sinne wie die Wahrnehmungen, von denen die Naturforschung ausgeht; und die subjectiven Re- gungen, die bei der naturwissenschaftlichen Auffassung der

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/18>, abgerufen am 26.04.2024.