Da wir denen, welche unsere Hülfe be- dürfen, aushelfen sollen, so viel wir können (§. 44.), und das Gesetze der Natur uns das Recht giebt zu den Handlungen, ohne welche wir unserer Verbindlichkeit kein Ge- nüge leisten können (§. 46.); so ist auch erlaubt Allmosen zu sammlen vor an- dere, die sie bedörfen. Dem aber ohn- erachtet wird der, welcher Allmosen für andere sammlet, nicht von der Ver- bindlichkeit, Allmosen von seinem eige- nen zu geben, befreyet (§. 42.).
§. 492.
Von der Barm- hertzig- keit.
Elende(miserum) nennt man denjeni- gen, welcher viel und grosses Uebel, beson- ders am Leibe, und vieles und grosses Unglück empfindet. Die Dürftigen also und Bett- ler sind elende (§. 487.). Barmhertzig (misericordem) nennt man denjenigen, dem das Elend des andern ein Bewegungsgrund ist, ihn von dem Uebel umsonst zu befreyen, oder wenigstens ihm dasselbige, so viel an ihm ist, erträglicher zu machen. Derowegen da wir, so viel wir können, verhüten sollen, daß andere nicht Schaden an ihrer Seele, oder an ihrem Leibe, oder an ihrem Glücke leiden (§. 134.), folglich auch davor besorgt seyn, daß sie von ihrem Uebel befreyet werden, oder ihnen dasselbe wenigstens erträglicher gemacht werde; so sollen wir barmhertzig seyn.
Das
II.Th. 9. H. Von bloß milden Handl. ꝛc.
§. 491.
Von den Allmo- ſen, die man vor andere ſammlet.
Da wir denen, welche unſere Huͤlfe be- duͤrfen, aushelfen ſollen, ſo viel wir koͤnnen (§. 44.), und das Geſetze der Natur uns das Recht giebt zu den Handlungen, ohne welche wir unſerer Verbindlichkeit kein Ge- nuͤge leiſten koͤnnen (§. 46.); ſo iſt auch erlaubt Allmoſen zu ſammlen vor an- dere, die ſie bedoͤrfen. Dem aber ohn- erachtet wird der, welcher Allmoſen fuͤr andere ſammlet, nicht von der Ver- bindlichkeit, Allmoſen von ſeinem eige- nen zu geben, befreyet (§. 42.).
§. 492.
Von der Barm- hertzig- keit.
Elende(miſerum) nennt man denjeni- gen, welcher viel und groſſes Uebel, beſon- ders am Leibe, und vieles und groſſes Ungluͤck empfindet. Die Duͤrftigen alſo und Bett- ler ſind elende (§. 487.). Barmhertzig (miſericordem) nennt man denjenigen, dem das Elend des andern ein Bewegungsgrund iſt, ihn von dem Uebel umſonſt zu befreyen, oder wenigſtens ihm daſſelbige, ſo viel an ihm iſt, ertraͤglicher zu machen. Derowegen da wir, ſo viel wir koͤnnen, verhuͤten ſollen, daß andere nicht Schaden an ihrer Seele, oder an ihrem Leibe, oder an ihrem Gluͤcke leiden (§. 134.), folglich auch davor beſorgt ſeyn, daß ſie von ihrem Uebel befreyet werden, oder ihnen daſſelbe wenigſtens ertraͤglicher gemacht werde; ſo ſollen wir barmhertzig ſeyn.
Das
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0342"n="306"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi><hirendition="#b">Th. 9. H. Von bloß milden Handl. ꝛc.</hi></fw><lb/><divn="4"><head>§. 491.</head><lb/><noteplace="left">Von den<lb/>
Allmo-<lb/>ſen, die<lb/>
man vor<lb/>
andere<lb/>ſammlet.</note><p>Da wir denen, welche unſere Huͤlfe be-<lb/>
duͤrfen, aushelfen ſollen, ſo viel wir koͤnnen<lb/>
(§. 44.), und das Geſetze der Natur uns<lb/>
das Recht giebt zu den Handlungen, ohne<lb/>
welche wir unſerer Verbindlichkeit kein Ge-<lb/>
nuͤge leiſten koͤnnen (§. 46.); <hirendition="#fr">ſo iſt auch<lb/>
erlaubt Allmoſen zu ſammlen vor an-<lb/>
dere, die ſie bedoͤrfen.</hi> Dem aber ohn-<lb/>
erachtet <hirendition="#fr">wird der, welcher Allmoſen<lb/>
fuͤr andere ſammlet, nicht von der Ver-<lb/>
bindlichkeit, Allmoſen von ſeinem eige-<lb/>
nen zu geben, befreyet</hi> (§. 42.).</p></div><lb/><divn="4"><head>§. 492.</head><lb/><noteplace="left">Von der<lb/>
Barm-<lb/>
hertzig-<lb/>
keit.</note><p><hirendition="#fr">Elende</hi><hirendition="#aq">(miſerum)</hi> nennt man denjeni-<lb/>
gen, welcher viel und groſſes Uebel, beſon-<lb/>
ders am Leibe, und vieles und groſſes Ungluͤck<lb/>
empfindet. <hirendition="#fr">Die Duͤrftigen</hi> alſo <hirendition="#fr">und Bett-<lb/>
ler ſind elende (§. 487.). Barmhertzig</hi><lb/><hirendition="#aq">(miſericordem)</hi> nennt man denjenigen, dem<lb/>
das Elend des andern ein Bewegungsgrund<lb/>
iſt, ihn von dem Uebel umſonſt zu befreyen,<lb/>
oder wenigſtens ihm daſſelbige, ſo viel an ihm<lb/>
iſt, ertraͤglicher zu machen. Derowegen da<lb/>
wir, ſo viel wir koͤnnen, verhuͤten ſollen, daß<lb/>
andere nicht Schaden an ihrer Seele, oder<lb/>
an ihrem Leibe, oder an ihrem Gluͤcke leiden<lb/>
(§. 134.), folglich auch davor beſorgt ſeyn,<lb/>
daß ſie von ihrem Uebel befreyet werden, oder<lb/>
ihnen daſſelbe wenigſtens ertraͤglicher gemacht<lb/>
werde; ſo <hirendition="#fr">ſollen wir barmhertzig ſeyn.</hi></p></div></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">Das</hi></fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[306/0342]
II. Th. 9. H. Von bloß milden Handl. ꝛc.
§. 491.
Da wir denen, welche unſere Huͤlfe be-
duͤrfen, aushelfen ſollen, ſo viel wir koͤnnen
(§. 44.), und das Geſetze der Natur uns
das Recht giebt zu den Handlungen, ohne
welche wir unſerer Verbindlichkeit kein Ge-
nuͤge leiſten koͤnnen (§. 46.); ſo iſt auch
erlaubt Allmoſen zu ſammlen vor an-
dere, die ſie bedoͤrfen. Dem aber ohn-
erachtet wird der, welcher Allmoſen
fuͤr andere ſammlet, nicht von der Ver-
bindlichkeit, Allmoſen von ſeinem eige-
nen zu geben, befreyet (§. 42.).
§. 492.
Elende (miſerum) nennt man denjeni-
gen, welcher viel und groſſes Uebel, beſon-
ders am Leibe, und vieles und groſſes Ungluͤck
empfindet. Die Duͤrftigen alſo und Bett-
ler ſind elende (§. 487.). Barmhertzig
(miſericordem) nennt man denjenigen, dem
das Elend des andern ein Bewegungsgrund
iſt, ihn von dem Uebel umſonſt zu befreyen,
oder wenigſtens ihm daſſelbige, ſo viel an ihm
iſt, ertraͤglicher zu machen. Derowegen da
wir, ſo viel wir koͤnnen, verhuͤten ſollen, daß
andere nicht Schaden an ihrer Seele, oder
an ihrem Leibe, oder an ihrem Gluͤcke leiden
(§. 134.), folglich auch davor beſorgt ſeyn,
daß ſie von ihrem Uebel befreyet werden, oder
ihnen daſſelbe wenigſtens ertraͤglicher gemacht
werde; ſo ſollen wir barmhertzig ſeyn.
Das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754/342>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.