Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Th. 6. H. Von der Eröfnung
nen, wofern wir nicht unsere Gedan-
cken verbergen, oder moralisch falsch re-
den (§. 49.); und alsdann ist die Un-
wahrheit keine Lügen
(§. 351.). Und
weil nach der natürlichen Freyheit niemanden
verwehret werden kann, in der Bestimmung
seiner Handlungen sich nach seinem Urtheile
zu richten, wenn er nur nichts thut, zu dessen
Unterlassung er uns verbunden ist (§. 78.),
die natürliche Freyheit aber die natürliche
Verbindlichkeit nicht aufhebt (§. 77.); so ist
auch erlaubt, wenn wir nicht verbun-
den sind dem andern unsere Gedancken
zu sagen, noch auch eine Pflicht gegen
uns selbst oder gegen andere solches er-
fordert, die Wahrheit zu verheelen.

§. 353.
Von der
Zwey-
deutig-
keit im
Reden.

Zweydeutig redet derjenige (ambigue
loqvitur),
welcher sich solcher Worte bedie-
net, so nach dem gemeinen Gebrauch im Re-
den mehr als eine Bedeutung haben können.
Dieses ist wieder die Klugheit, wenn
wir einem andern unsere Gedancken
eröfnen wollen
(§. 21.), und folglich zu
vermeiden. Wenn wir aber voraus
sehen, es werde ein anderer, dem wir
unsere Gedancken zu eröfnen verbun-
den sind, sie in einer Bedeutung neh-
men, die von unserer Meinung unter-
schieden ist, und wir dieses vorsätzlich
zur Absicht haben (§. 17.), so ist die
Zweydeutigkeit im Reden einer Lügen

gleich

II. Th. 6. H. Von der Eroͤfnung
nen, wofern wir nicht unſere Gedan-
cken verbergen, oder moraliſch falſch re-
den (§. 49.); und alsdann iſt die Un-
wahrheit keine Luͤgen
(§. 351.). Und
weil nach der natuͤrlichen Freyheit niemanden
verwehret werden kann, in der Beſtimmung
ſeiner Handlungen ſich nach ſeinem Urtheile
zu richten, wenn er nur nichts thut, zu deſſen
Unterlaſſung er uns verbunden iſt (§. 78.),
die natuͤrliche Freyheit aber die natuͤrliche
Verbindlichkeit nicht aufhebt (§. 77.); ſo iſt
auch erlaubt, wenn wir nicht verbun-
den ſind dem andern unſere Gedancken
zu ſagen, noch auch eine Pflicht gegen
uns ſelbſt oder gegen andere ſolches er-
fordert, die Wahrheit zu verheelen.

§. 353.
Von der
Zwey-
deutig-
keit im
Reden.

Zweydeutig redet derjenige (ambigue
loqvitur),
welcher ſich ſolcher Worte bedie-
net, ſo nach dem gemeinen Gebrauch im Re-
den mehr als eine Bedeutung haben koͤnnen.
Dieſes iſt wieder die Klugheit, wenn
wir einem andern unſere Gedancken
eroͤfnen wollen
(§. 21.), und folglich zu
vermeiden. Wenn wir aber voraus
ſehen, es werde ein anderer, dem wir
unſere Gedancken zu eroͤfnen verbun-
den ſind, ſie in einer Bedeutung neh-
men, die von unſerer Meinung unter-
ſchieden iſt, und wir dieſes vorſaͤtzlich
zur Abſicht haben (§. 17.), ſo iſt die
Zweydeutigkeit im Reden einer Luͤgen

gleich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0252" n="216"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Th. 6. H. Von der Ero&#x0364;fnung</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">nen, wofern wir nicht un&#x017F;ere Gedan-<lb/>
cken verbergen, oder morali&#x017F;ch fal&#x017F;ch re-<lb/>
den (§. 49.); und alsdann i&#x017F;t die Un-<lb/>
wahrheit keine Lu&#x0364;gen</hi> (§. 351.). Und<lb/>
weil nach der natu&#x0364;rlichen Freyheit niemanden<lb/>
verwehret werden kann, in der Be&#x017F;timmung<lb/>
&#x017F;einer Handlungen &#x017F;ich nach &#x017F;einem Urtheile<lb/>
zu richten, wenn er nur nichts thut, zu de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Unterla&#x017F;&#x017F;ung er uns verbunden i&#x017F;t (§. 78.),<lb/>
die natu&#x0364;rliche Freyheit aber die natu&#x0364;rliche<lb/>
Verbindlichkeit nicht aufhebt (§. 77.); <hi rendition="#fr">&#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
auch erlaubt, wenn wir nicht verbun-<lb/>
den &#x017F;ind dem andern un&#x017F;ere Gedancken<lb/>
zu &#x017F;agen, noch auch eine Pflicht gegen<lb/>
uns &#x017F;elb&#x017F;t oder gegen andere &#x017F;olches er-<lb/>
fordert, die Wahrheit zu verheelen.</hi></p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 353.</head><lb/>
              <note place="left">Von der<lb/>
Zwey-<lb/>
deutig-<lb/>
keit im<lb/>
Reden.</note>
              <p><hi rendition="#fr">Zweydeutig redet</hi> derjenige <hi rendition="#aq">(ambigue<lb/>
loqvitur),</hi> welcher &#x017F;ich &#x017F;olcher Worte bedie-<lb/>
net, &#x017F;o nach dem gemeinen Gebrauch im Re-<lb/>
den mehr als eine Bedeutung haben ko&#x0364;nnen.<lb/><hi rendition="#fr">Die&#x017F;es i&#x017F;t wieder die Klugheit, wenn<lb/>
wir einem andern un&#x017F;ere Gedancken<lb/>
ero&#x0364;fnen wollen</hi> (§. 21.), und folglich <hi rendition="#fr">zu<lb/>
vermeiden. Wenn wir aber voraus<lb/>
&#x017F;ehen, es werde ein anderer, dem wir<lb/>
un&#x017F;ere Gedancken zu ero&#x0364;fnen verbun-<lb/>
den &#x017F;ind, &#x017F;ie in einer Bedeutung neh-<lb/>
men, die von un&#x017F;erer Meinung unter-<lb/>
&#x017F;chieden i&#x017F;t, und wir die&#x017F;es vor&#x017F;a&#x0364;tzlich<lb/>
zur Ab&#x017F;icht haben (§. 17.), &#x017F;o i&#x017F;t die<lb/>
Zweydeutigkeit im Reden einer Lu&#x0364;gen</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">gleich</hi></fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0252] II. Th. 6. H. Von der Eroͤfnung nen, wofern wir nicht unſere Gedan- cken verbergen, oder moraliſch falſch re- den (§. 49.); und alsdann iſt die Un- wahrheit keine Luͤgen (§. 351.). Und weil nach der natuͤrlichen Freyheit niemanden verwehret werden kann, in der Beſtimmung ſeiner Handlungen ſich nach ſeinem Urtheile zu richten, wenn er nur nichts thut, zu deſſen Unterlaſſung er uns verbunden iſt (§. 78.), die natuͤrliche Freyheit aber die natuͤrliche Verbindlichkeit nicht aufhebt (§. 77.); ſo iſt auch erlaubt, wenn wir nicht verbun- den ſind dem andern unſere Gedancken zu ſagen, noch auch eine Pflicht gegen uns ſelbſt oder gegen andere ſolches er- fordert, die Wahrheit zu verheelen. §. 353. Zweydeutig redet derjenige (ambigue loqvitur), welcher ſich ſolcher Worte bedie- net, ſo nach dem gemeinen Gebrauch im Re- den mehr als eine Bedeutung haben koͤnnen. Dieſes iſt wieder die Klugheit, wenn wir einem andern unſere Gedancken eroͤfnen wollen (§. 21.), und folglich zu vermeiden. Wenn wir aber voraus ſehen, es werde ein anderer, dem wir unſere Gedancken zu eroͤfnen verbun- den ſind, ſie in einer Bedeutung neh- men, die von unſerer Meinung unter- ſchieden iſt, und wir dieſes vorſaͤtzlich zur Abſicht haben (§. 17.), ſo iſt die Zweydeutigkeit im Reden einer Luͤgen gleich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754/252
Zitationshilfe: Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754/252>, abgerufen am 21.11.2024.