gen(mendacium) ist also eine Unwahrheit im Reden, welche unserer Verbindlichkeit zu- wieder ist, vermöge welcher wir dem andern unsere Gedancken eröfnen sollen; folgends wodurch des andern Recht, welches aus die- ser Verbindlichkeit entspringt, verletzt wird (§. 46.). Das Verschweigen(reticentia) hingegen das Stillschweigen von dem, das wir zu sagen verbunden sind. Es ist also das Verschweigen dem Recht eines andern zuwieder.
§. 352.
Da sich niemand von der natürlichen Ver-Von der Sittlich- keit des Wahrre- dens, der Lügen u. des Ver- schwei- gens. bindlichkeit so wohl (§. 42.), als von der er- langten befreyen kann (§. 100.); so sind wir verbunden, woferne wir einer Pflicht (§. 57.), oder einer erlangten Verbindlichkeit kein Genüge leisten können, wofern wir nicht dem andern unsere Gedancken eröfnen, moralisch wahrzureden, folglich zum Wahrreden verbunden (§. 347.); und daher ist so wohl die Unwahrheit (§. 348.), als das Ver- schweigen unerlaubt (§. 351.). Wor- aus ferner erhellet, daß eine jede Lügen unerlaubt sey (§. cit.). Jm Gegentheil aber, da uns das Gesetz der Natur ein Recht dazu giebt, ohne welches wir unserer Ver- bindlichkeit kein Genüge leisten können (§. 46.), ist beydes erlaubt, wenn wir einer Pflicht oder einer zugezogenen Ver- bindlichkeit kein Genüge leisten kön-
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ſeiner Gedancken.
gen(mendacium) iſt alſo eine Unwahrheit im Reden, welche unſerer Verbindlichkeit zu- wieder iſt, vermoͤge welcher wir dem andern unſere Gedancken eroͤfnen ſollen; folgends wodurch des andern Recht, welches aus die- ſer Verbindlichkeit entſpringt, verletzt wird (§. 46.). Das Verſchweigen(reticentia) hingegen das Stillſchweigen von dem, das wir zu ſagen verbunden ſind. Es iſt alſo das Verſchweigen dem Recht eines andern zuwieder.
§. 352.
Da ſich niemand von der natuͤrlichen Ver-Von der Sittlich- keit des Wahrre- dens, der Luͤgen u. des Ver- ſchwei- gens. bindlichkeit ſo wohl (§. 42.), als von der er- langten befreyen kann (§. 100.); ſo ſind wir verbunden, woferne wir einer Pflicht (§. 57.), oder einer erlangten Verbindlichkeit kein Genuͤge leiſten koͤnnen, wofern wir nicht dem andern unſere Gedancken eroͤfnen, moraliſch wahrzureden, folglich zum Wahrreden verbunden (§. 347.); und daher iſt ſo wohl die Unwahrheit (§. 348.), als das Ver- ſchweigen unerlaubt (§. 351.). Wor- aus ferner erhellet, daß eine jede Luͤgen unerlaubt ſey (§. cit.). Jm Gegentheil aber, da uns das Geſetz der Natur ein Recht dazu giebt, ohne welches wir unſerer Ver- bindlichkeit kein Genuͤge leiſten koͤnnen (§. 46.), iſt beydes erlaubt, wenn wir einer Pflicht oder einer zugezogenen Ver- bindlichkeit kein Genuͤge leiſten koͤn-
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ſeiner Gedancken.
gen (mendacium) iſt alſo eine Unwahrheit
im Reden, welche unſerer Verbindlichkeit zu-
wieder iſt, vermoͤge welcher wir dem andern
unſere Gedancken eroͤfnen ſollen; folgends
wodurch des andern Recht, welches aus die-
ſer Verbindlichkeit entſpringt, verletzt wird
(§. 46.). Das Verſchweigen (reticentia)
hingegen das Stillſchweigen von dem, das wir
zu ſagen verbunden ſind. Es iſt alſo das
Verſchweigen dem Recht eines andern
zuwieder.
§. 352.
Da ſich niemand von der natuͤrlichen Ver-
bindlichkeit ſo wohl (§. 42.), als von der er-
langten befreyen kann (§. 100.); ſo ſind
wir verbunden, woferne wir einer
Pflicht (§. 57.), oder einer erlangten
Verbindlichkeit kein Genuͤge leiſten
koͤnnen, wofern wir nicht dem andern
unſere Gedancken eroͤfnen, moraliſch
wahrzureden, folglich zum Wahrreden
verbunden (§. 347.); und daher iſt ſo wohl
die Unwahrheit (§. 348.), als das Ver-
ſchweigen unerlaubt (§. 351.). Wor-
aus ferner erhellet, daß eine jede Luͤgen
unerlaubt ſey (§. cit.). Jm Gegentheil
aber, da uns das Geſetz der Natur ein Recht
dazu giebt, ohne welches wir unſerer Ver-
bindlichkeit kein Genuͤge leiſten koͤnnen (§. 46.),
iſt beydes erlaubt, wenn wir einer
Pflicht oder einer zugezogenen Ver-
bindlichkeit kein Genuͤge leiſten koͤn-
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Von der
Sittlich-
keit des
Wahrre-
dens, der
Luͤgen u.
des Ver-
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Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754/251>, abgerufen am 21.11.2024.
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