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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
epische, lakonische steht auch in ihr nebeneinander. aber eins ist neu
bei Alkman: er ist chordichter. zwar hat auch Sappho für ihre mädchen
und in den hochzeitsliedern auch für jünglinge lieder gedichtet zu ge-
meinsamem gesange. und in vielen culten wurden processionslieder,
wiederum vorwiegend für mädchen, gebraucht. dass bei den volkstüm-
lichen reigen allerorten auch gesungen worden ist, ist selbstverständlich.
und doch ist bei Alkman etwas völlig neues da. wenn er auch bei
manchen feierlichen gelegenheiten das eigne ich zurückgehalten haben
wird, so ist doch zumeist der chor für ihn nur ein instrument, dem er
so gut seine eignen empfindungen leiht wie der laute. von sich, seinem
namen, seiner herkunft, seinem hunger und seinen versen redet er oder
lässt er vielmehr die mädchen singen. ja, sie müssen uns von seinen
liebeleien unterhalten. die kärglichen und schwer zu deutenden reste
gewähren kein volles bild von dem dörflichen dichter, den man vielleicht
am ehesten mit Neidhard von Reuental vergleichen kann. aber gerade
das formelle, auf das es für die entwickelung ankommt, ist sonnenklar:
der chorgesang und daneben doch die äusserung der individualität des
dichters ist erreicht.

Stesichoros.

Alkman und sein bäschen Agido gehören nicht zur ritterbürtigen
gesellschaft, die sich gleichzeitig etwa an der Eunomie des Tyrtaios erbaute.
die chorpoesie ist die der perioeken. so dringt denn auch die vornehme
heldensage nicht stärker ein, als der allgemeine lakonische patriotismus
und die auch hier gewaltige macht Homers mit sich bringt. die helden-
sage als inhalt und die höchste gesellschaft als publicum erobert für
die chorische lyrik erst Stesichoros. Sparta und Himera liegen weit von
einander, und niemand wird sich vermessen, etwa weil Stesichoros in der
tat specifisch lakonische sagen kennt, einen directen zusammenhang anzu-
nehmen. die etappen der allgemeinen entwickelung beobachten wir nur
an vereinzelten punkten, und dass sich ein scheinbarer zusammenhang
ergibt, ist der erfolg der gleichartigkeit, welche über weite räume hin
die kunst beherrscht. in der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts sind
dichter aus Chalkis und seiner nachbarschaft die bedeutendsten; ein chal-
kidisches volkslied zeigt die charakteristischen formen der Stesichoreischen
daktyloepitriten 35): was wunders dass in einer chalkidischen enkelstadt

35) Aristoteles bei Plut. amator. 7
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Bergk (carm. pop. 44) hat das richtige gesehen, wenn auch nicht festgehalten.

Was ist eine attische tragödie?
epische, lakonische steht auch in ihr nebeneinander. aber eins ist neu
bei Alkman: er ist chordichter. zwar hat auch Sappho für ihre mädchen
und in den hochzeitsliedern auch für jünglinge lieder gedichtet zu ge-
meinsamem gesange. und in vielen culten wurden processionslieder,
wiederum vorwiegend für mädchen, gebraucht. daſs bei den volkstüm-
lichen reigen allerorten auch gesungen worden ist, ist selbstverständlich.
und doch ist bei Alkman etwas völlig neues da. wenn er auch bei
manchen feierlichen gelegenheiten das eigne ich zurückgehalten haben
wird, so ist doch zumeist der chor für ihn nur ein instrument, dem er
so gut seine eignen empfindungen leiht wie der laute. von sich, seinem
namen, seiner herkunft, seinem hunger und seinen versen redet er oder
läſst er vielmehr die mädchen singen. ja, sie müssen uns von seinen
liebeleien unterhalten. die kärglichen und schwer zu deutenden reste
gewähren kein volles bild von dem dörflichen dichter, den man vielleicht
am ehesten mit Neidhard von Reuental vergleichen kann. aber gerade
das formelle, auf das es für die entwickelung ankommt, ist sonnenklar:
der chorgesang und daneben doch die äuſserung der individualität des
dichters ist erreicht.

Stesichoros.

Alkman und sein bäschen Agido gehören nicht zur ritterbürtigen
gesellschaft, die sich gleichzeitig etwa an der Eunomie des Tyrtaios erbaute.
die chorpoesie ist die der perioeken. so dringt denn auch die vornehme
heldensage nicht stärker ein, als der allgemeine lakonische patriotismus
und die auch hier gewaltige macht Homers mit sich bringt. die helden-
sage als inhalt und die höchste gesellschaft als publicum erobert für
die chorische lyrik erst Stesichoros. Sparta und Himera liegen weit von
einander, und niemand wird sich vermessen, etwa weil Stesichoros in der
tat specifisch lakonische sagen kennt, einen directen zusammenhang anzu-
nehmen. die etappen der allgemeinen entwickelung beobachten wir nur
an vereinzelten punkten, und daſs sich ein scheinbarer zusammenhang
ergibt, ist der erfolg der gleichartigkeit, welche über weite räume hin
die kunst beherrscht. in der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts sind
dichter aus Chalkis und seiner nachbarschaft die bedeutendsten; ein chal-
kidisches volkslied zeigt die charakteristischen formen der Stesichoreischen
daktyloepitriten 35): was wunders daſs in einer chalkidischen enkelstadt

35) Aristoteles bei Plut. amator. 7
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[72/0092] Was ist eine attische tragödie? epische, lakonische steht auch in ihr nebeneinander. aber eins ist neu bei Alkman: er ist chordichter. zwar hat auch Sappho für ihre mädchen und in den hochzeitsliedern auch für jünglinge lieder gedichtet zu ge- meinsamem gesange. und in vielen culten wurden processionslieder, wiederum vorwiegend für mädchen, gebraucht. daſs bei den volkstüm- lichen reigen allerorten auch gesungen worden ist, ist selbstverständlich. und doch ist bei Alkman etwas völlig neues da. wenn er auch bei manchen feierlichen gelegenheiten das eigne ich zurückgehalten haben wird, so ist doch zumeist der chor für ihn nur ein instrument, dem er so gut seine eignen empfindungen leiht wie der laute. von sich, seinem namen, seiner herkunft, seinem hunger und seinen versen redet er oder läſst er vielmehr die mädchen singen. ja, sie müssen uns von seinen liebeleien unterhalten. die kärglichen und schwer zu deutenden reste gewähren kein volles bild von dem dörflichen dichter, den man vielleicht am ehesten mit Neidhard von Reuental vergleichen kann. aber gerade das formelle, auf das es für die entwickelung ankommt, ist sonnenklar: der chorgesang und daneben doch die äuſserung der individualität des dichters ist erreicht. Alkman und sein bäschen Agido gehören nicht zur ritterbürtigen gesellschaft, die sich gleichzeitig etwa an der Eunomie des Tyrtaios erbaute. die chorpoesie ist die der perioeken. so dringt denn auch die vornehme heldensage nicht stärker ein, als der allgemeine lakonische patriotismus und die auch hier gewaltige macht Homers mit sich bringt. die helden- sage als inhalt und die höchste gesellschaft als publicum erobert für die chorische lyrik erst Stesichoros. Sparta und Himera liegen weit von einander, und niemand wird sich vermessen, etwa weil Stesichoros in der tat specifisch lakonische sagen kennt, einen directen zusammenhang anzu- nehmen. die etappen der allgemeinen entwickelung beobachten wir nur an vereinzelten punkten, und daſs sich ein scheinbarer zusammenhang ergibt, ist der erfolg der gleichartigkeit, welche über weite räume hin die kunst beherrscht. in der zweiten hälfte des 6. jahrhunderts sind dichter aus Chalkis und seiner nachbarschaft die bedeutendsten; ein chal- kidisches volkslied zeigt die charakteristischen formen der Stesichoreischen daktyloepitriten 35): was wunders daſs in einer chalkidischen enkelstadt 35) Aristoteles bei Plut. amator. 7 — — ⏖ — ⏖ — ⏑ ⏐ — ⏖ — ⏖ — — — ⏑ — — ⏐ — ⏖ — ⏖ — — — ⏑ — — ⏐ — ⏖ — ⏖ — ⏑ ⏐ — ⏖ — ⏖ — — ⏐ — ⏖ — Bergk (carm. pop. 44) hat das richtige gesehen, wenn auch nicht festgehalten.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/92>, abgerufen am 27.04.2024.