Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Schauspielerverteilung. nachwirkung des dramas.
der euripideische geht in den tod zwar nicht, aber für die welt ist er
dennoch auch tot. beide dramatisiren das ende des heros, beide eine
geschichte, welche ihn in sünde verstrickt zeigt: das vorige capitel hat
in ganz anderem zusammenhange beide sagen neben einander stellen
müssen. es ist also wirklich die beziehung beider dramen zu einander
viel näher, als es zunächst scheinen mag: aber das ist natürlich, sind es
doch die beiden einzigen der eigentlichen Heraklessage entnommenen
tragödien60). dass er das schicksal des Herakles überhaupt zu dramati-
siren wagte, darin liegt die entscheidende anregung, die Sophokles von
seinem rivalen empfangen hat. gearbeitet hat er, wie sich von selbst
versteht, in seinem eignen sinne, und dem lag die pietätlosigkeit des
Euripides wider die sage ebenso fern wie die tiefe ethisch religiöser specu-
lation. deshalb machen auch die Trachinierinnen auf den ersten blick leicht
einen altertümlicheren eindruck als der Herakles. Sophokles hat sich be-
rechtigt gehalten, schlecht und recht der sage zu folgen, wie sie eben war,
ganz wie in der Elektra. aber keinesweges weil er die in ihr liegenden
anstösse nicht empfand, sondern weil sie für ihn etwas tatsächlich gegebenes
war. er hilft sich denn auch mit der verlegenheitsausrede, die jeden
stein gleich gut oder schlecht aus dem wege räumt, 'es ist nun einmal
gottes wille, da wird's schon recht sein'. tou logou ou khre phthonon
proseinai, Zeus otou praktor phane (251), das gilt dem verkauf in
die sclaverei, und das schlusswort ist ouden touton oti me Zeus61).
hätte er, der doch selbst eine Heraklescapelle gestiftet hatte, den leben-
digen Dorerglauben gehabt, so würde mindestens eine glänzende hin-
deutung auf die apotheose nicht gefehlt haben, aber das 'ende der mühen'
bedeutet innerhalb des dramas lediglich den tod, und nur in der letzten
rede des Hyllos steht eine schüchterne hindeutung, dass man noch nicht
wisse, was da kommen werde, neben einer scharfen anklage des Zeus, die
stark nach Euripides klingt62). so ist denn der Herakles des Sophokles

60) Mitrechnen mag man noch Eur. Alkmene, vgl. oben s. 298, zu der viel-
leicht Sophokles Amphitryon eine parallele bildete.
61) Nur vereinzelt wird ein zu starker zug gemildert, so der mord des Iphitos,
277, der nur dolo begangen sein soll: der bruch des gastrechts, das eigentlich ent-
scheidende, ist damit eliminirt. aber, muss der genauer überlegende fragen, ist denn
der totschlag durch list als solcher verwerflich, muss er mit theteia bestraft werden?
apollumai dolo ruft doch auch Lykos bei Euripides, und dolo wird Aigisthos in
den Choephoren bewältigt. so mislingt diese sorte apologetik immer.
62) Die vielbeanstandeten verse haben den sinn 'verzeiht mir, dass ich meinem
vater zur selbstverbrennung behilflich bin, und bedenkt, wie sehr Zeus pflichtver-
gessen handelt, indem er seinen sohn so zu grunde gehen lässt. das kann ja noch

Schauspielerverteilung. nachwirkung des dramas.
der euripideische geht in den tod zwar nicht, aber für die welt ist er
dennoch auch tot. beide dramatisiren das ende des heros, beide eine
geschichte, welche ihn in sünde verstrickt zeigt: das vorige capitel hat
in ganz anderem zusammenhange beide sagen neben einander stellen
müssen. es ist also wirklich die beziehung beider dramen zu einander
viel näher, als es zunächst scheinen mag: aber das ist natürlich, sind es
doch die beiden einzigen der eigentlichen Heraklessage entnommenen
tragödien60). daſs er das schicksal des Herakles überhaupt zu dramati-
siren wagte, darin liegt die entscheidende anregung, die Sophokles von
seinem rivalen empfangen hat. gearbeitet hat er, wie sich von selbst
versteht, in seinem eignen sinne, und dem lag die pietätlosigkeit des
Euripides wider die sage ebenso fern wie die tiefe ethisch religiöser specu-
lation. deshalb machen auch die Trachinierinnen auf den ersten blick leicht
einen altertümlicheren eindruck als der Herakles. Sophokles hat sich be-
rechtigt gehalten, schlecht und recht der sage zu folgen, wie sie eben war,
ganz wie in der Elektra. aber keinesweges weil er die in ihr liegenden
anstöſse nicht empfand, sondern weil sie für ihn etwas tatsächlich gegebenes
war. er hilft sich denn auch mit der verlegenheitsausrede, die jeden
stein gleich gut oder schlecht aus dem wege räumt, ‘es ist nun einmal
gottes wille, da wird’s schon recht sein’. τοῦ λόγου οὐ χρὴ φϑόνον
προσεῖναι, Ζεὺς ὅτου πράκτωρ φανῇ (251), das gilt dem verkauf in
die sclaverei, und das schluſswort ist οὐδὲν τούτων ὅτι μὴ Ζεύς61).
hätte er, der doch selbst eine Heraklescapelle gestiftet hatte, den leben-
digen Dorerglauben gehabt, so würde mindestens eine glänzende hin-
deutung auf die apotheose nicht gefehlt haben, aber das ‘ende der mühen’
bedeutet innerhalb des dramas lediglich den tod, und nur in der letzten
rede des Hyllos steht eine schüchterne hindeutung, daſs man noch nicht
wisse, was da kommen werde, neben einer scharfen anklage des Zeus, die
stark nach Euripides klingt62). so ist denn der Herakles des Sophokles

60) Mitrechnen mag man noch Eur. Alkmene, vgl. oben s. 298, zu der viel-
leicht Sophokles Amphitryon eine parallele bildete.
61) Nur vereinzelt wird ein zu starker zug gemildert, so der mord des Iphitos,
277, der nur δόλῳ begangen sein soll: der bruch des gastrechts, das eigentlich ent-
scheidende, ist damit eliminirt. aber, muſs der genauer überlegende fragen, ist denn
der totschlag durch list als solcher verwerflich, muſs er mit ϑητεία bestraft werden?
ἀπόλλυμαι δόλῳ ruft doch auch Lykos bei Euripides, und δόλῳ wird Aigisthos in
den Choephoren bewältigt. so mislingt diese sorte apologetik immer.
62) Die vielbeanstandeten verse haben den sinn ‘verzeiht mir, daſs ich meinem
vater zur selbstverbrennung behilflich bin, und bedenkt, wie sehr Zeus pflichtver-
gessen handelt, indem er seinen sohn so zu grunde gehen läſst. das kann ja noch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0403" n="383"/><fw place="top" type="header">Schauspielerverteilung. nachwirkung des dramas.</fw><lb/>
der euripideische geht in den tod zwar nicht, aber für die welt ist er<lb/>
dennoch auch tot. beide dramatisiren das ende des heros, beide eine<lb/>
geschichte, welche ihn in sünde verstrickt zeigt: das vorige capitel hat<lb/>
in ganz anderem zusammenhange beide sagen neben einander stellen<lb/>
müssen. es ist also wirklich die beziehung beider dramen zu einander<lb/>
viel näher, als es zunächst scheinen mag: aber das ist natürlich, sind es<lb/>
doch die beiden einzigen der eigentlichen Heraklessage entnommenen<lb/>
tragödien<note place="foot" n="60)">Mitrechnen mag man noch Eur. Alkmene, vgl. oben s. 298, zu der viel-<lb/>
leicht Sophokles Amphitryon eine parallele bildete.</note>. da&#x017F;s er das schicksal des Herakles überhaupt zu dramati-<lb/>
siren wagte, darin liegt die entscheidende anregung, die Sophokles von<lb/>
seinem rivalen empfangen hat. gearbeitet hat er, wie sich von selbst<lb/>
versteht, in seinem eignen sinne, und dem lag die pietätlosigkeit des<lb/>
Euripides wider die sage ebenso fern wie die tiefe ethisch religiöser specu-<lb/>
lation. deshalb machen auch die Trachinierinnen auf den ersten blick leicht<lb/>
einen altertümlicheren eindruck als der Herakles. Sophokles hat sich be-<lb/>
rechtigt gehalten, schlecht und recht der sage zu folgen, wie sie eben war,<lb/>
ganz wie in der Elektra. aber keinesweges weil er die in ihr liegenden<lb/>
anstö&#x017F;se nicht empfand, sondern weil sie für ihn etwas tatsächlich gegebenes<lb/>
war. er hilft sich denn auch mit der verlegenheitsausrede, die jeden<lb/>
stein gleich gut oder schlecht aus dem wege räumt, &#x2018;es ist nun einmal<lb/>
gottes wille, da wird&#x2019;s schon recht sein&#x2019;. &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C5; &#x03BF;&#x1F50; &#x03C7;&#x03C1;&#x1F74; &#x03C6;&#x03D1;&#x03CC;&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD;<lb/>
&#x03C0;&#x03C1;&#x03BF;&#x03C3;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03BD;&#x03B1;&#x03B9;, &#x0396;&#x03B5;&#x1F7A;&#x03C2; &#x1F45;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C5; &#x03C0;&#x03C1;&#x03AC;&#x03BA;&#x03C4;&#x03C9;&#x03C1; &#x03C6;&#x03B1;&#x03BD;&#x1FC7; (251), das gilt dem verkauf in<lb/>
die sclaverei, und das schlu&#x017F;swort ist &#x03BF;&#x1F50;&#x03B4;&#x1F72;&#x03BD; &#x03C4;&#x03BF;&#x03CD;&#x03C4;&#x03C9;&#x03BD; &#x1F45;&#x03C4;&#x03B9; &#x03BC;&#x1F74; &#x0396;&#x03B5;&#x03CD;&#x03C2;<note place="foot" n="61)">Nur vereinzelt wird ein zu starker zug gemildert, so der mord des Iphitos,<lb/>
277, der nur &#x03B4;&#x03CC;&#x03BB;&#x1FF3; begangen sein soll: der bruch des gastrechts, das eigentlich ent-<lb/>
scheidende, ist damit eliminirt. aber, mu&#x017F;s der genauer überlegende fragen, ist denn<lb/>
der totschlag durch list als solcher verwerflich, mu&#x017F;s er mit &#x03D1;&#x03B7;&#x03C4;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1; bestraft werden?<lb/>
&#x1F00;&#x03C0;&#x03CC;&#x03BB;&#x03BB;&#x03C5;&#x03BC;&#x03B1;&#x03B9; &#x03B4;&#x03CC;&#x03BB;&#x1FF3; ruft doch auch Lykos bei Euripides, und &#x03B4;&#x03CC;&#x03BB;&#x1FF3; wird Aigisthos in<lb/>
den Choephoren bewältigt. so mislingt diese sorte apologetik immer.</note>.<lb/>
hätte er, der doch selbst eine Heraklescapelle gestiftet hatte, den leben-<lb/>
digen Dorerglauben gehabt, so würde mindestens eine glänzende hin-<lb/>
deutung auf die apotheose nicht gefehlt haben, aber das &#x2018;ende der mühen&#x2019;<lb/>
bedeutet innerhalb des dramas lediglich den tod, und nur in der letzten<lb/>
rede des Hyllos steht eine schüchterne hindeutung, da&#x017F;s man noch nicht<lb/>
wisse, was da kommen werde, neben einer scharfen anklage des Zeus, die<lb/>
stark nach Euripides klingt<note xml:id="note-0403" next="#note-0404" place="foot" n="62)">Die vielbeanstandeten verse haben den sinn &#x2018;verzeiht mir, da&#x017F;s ich meinem<lb/>
vater zur selbstverbrennung behilflich bin, und bedenkt, wie sehr Zeus pflichtver-<lb/>
gessen handelt, indem er seinen sohn so zu grunde gehen lä&#x017F;st. das kann ja noch</note>. so ist denn der Herakles des Sophokles<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[383/0403] Schauspielerverteilung. nachwirkung des dramas. der euripideische geht in den tod zwar nicht, aber für die welt ist er dennoch auch tot. beide dramatisiren das ende des heros, beide eine geschichte, welche ihn in sünde verstrickt zeigt: das vorige capitel hat in ganz anderem zusammenhange beide sagen neben einander stellen müssen. es ist also wirklich die beziehung beider dramen zu einander viel näher, als es zunächst scheinen mag: aber das ist natürlich, sind es doch die beiden einzigen der eigentlichen Heraklessage entnommenen tragödien 60). daſs er das schicksal des Herakles überhaupt zu dramati- siren wagte, darin liegt die entscheidende anregung, die Sophokles von seinem rivalen empfangen hat. gearbeitet hat er, wie sich von selbst versteht, in seinem eignen sinne, und dem lag die pietätlosigkeit des Euripides wider die sage ebenso fern wie die tiefe ethisch religiöser specu- lation. deshalb machen auch die Trachinierinnen auf den ersten blick leicht einen altertümlicheren eindruck als der Herakles. Sophokles hat sich be- rechtigt gehalten, schlecht und recht der sage zu folgen, wie sie eben war, ganz wie in der Elektra. aber keinesweges weil er die in ihr liegenden anstöſse nicht empfand, sondern weil sie für ihn etwas tatsächlich gegebenes war. er hilft sich denn auch mit der verlegenheitsausrede, die jeden stein gleich gut oder schlecht aus dem wege räumt, ‘es ist nun einmal gottes wille, da wird’s schon recht sein’. τοῦ λόγου οὐ χρὴ φϑόνον προσεῖναι, Ζεὺς ὅτου πράκτωρ φανῇ (251), das gilt dem verkauf in die sclaverei, und das schluſswort ist οὐδὲν τούτων ὅτι μὴ Ζεύς 61). hätte er, der doch selbst eine Heraklescapelle gestiftet hatte, den leben- digen Dorerglauben gehabt, so würde mindestens eine glänzende hin- deutung auf die apotheose nicht gefehlt haben, aber das ‘ende der mühen’ bedeutet innerhalb des dramas lediglich den tod, und nur in der letzten rede des Hyllos steht eine schüchterne hindeutung, daſs man noch nicht wisse, was da kommen werde, neben einer scharfen anklage des Zeus, die stark nach Euripides klingt 62). so ist denn der Herakles des Sophokles 60) Mitrechnen mag man noch Eur. Alkmene, vgl. oben s. 298, zu der viel- leicht Sophokles Amphitryon eine parallele bildete. 61) Nur vereinzelt wird ein zu starker zug gemildert, so der mord des Iphitos, 277, der nur δόλῳ begangen sein soll: der bruch des gastrechts, das eigentlich ent- scheidende, ist damit eliminirt. aber, muſs der genauer überlegende fragen, ist denn der totschlag durch list als solcher verwerflich, muſs er mit ϑητεία bestraft werden? ἀπόλλυμαι δόλῳ ruft doch auch Lykos bei Euripides, und δόλῳ wird Aigisthos in den Choephoren bewältigt. so mislingt diese sorte apologetik immer. 62) Die vielbeanstandeten verse haben den sinn ‘verzeiht mir, daſs ich meinem vater zur selbstverbrennung behilflich bin, und bedenkt, wie sehr Zeus pflichtver- gessen handelt, indem er seinen sohn so zu grunde gehen läſst. das kann ja noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/403
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/403>, abgerufen am 27.04.2024.