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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Aufbau des dramas.
breit macht, ist für den modernen leser wahrlich kein ersatz, war es in
Athen nur für die anhänger des specifisch modernen stils, der in die
poesie eigentlich nicht gehört. wol aber hat Euripides sich hier als
echten dichter wenigstens an einer figur bewährt, die dem fühlenden
leser noch heute das herz bewegt, wenn ihn auch die rhetorik kalt lässt,
und die allerdings den erfahrenen kenner der bühnenwirkung überall,
auch so weit sie in stummem spiele besteht 43), verratende führung der
handlung, nur zu einem kühlen beifall veranlasst. die gattin des Herakles
ist kein typus wie Lykos und hat nicht bloss eine relative bedeutung
wie Amphitryon, sie ist ein individuum. der kündiger des weiblichen
herzens hat sich in den wenigen reden, die er Megara geliehen hat, nicht
verleugnet. da ist zwar die äusserung der empfindung durch die engen
bande der sitte zurückgehalten, welche nun einmal für die attische frau
galt: aber es bedarf für den leser nur der achtsamkeit (für den schau-
spieler also nur des verständigen benutzens der handweisungen des
dichters), um zu bemerken, welches feuer der leidenschaft in ihr kocht.
sie kommt mit ihren reden immer an einem anderen ende an, als sie
beabsichtigt hat, oder muss gewaltsam zu ihrem thema zurückspringen.
die empfindung und der affect ist stärker als sie. und empfindung und
affect der frau hat recht gegenüber der besonnenen kälte des greises und
dem cynischen verstandesmenschen Lykos, ja selbst gegenüber dem was
Megara ihrem verstande gemäss wider ihre empfindung sagen will. in
all ihrer schwäche ist die vornehme frau dem gekrönten plebejer über-
legen, und vor ihr, die in ihrem gatten ihren einzigen adel sieht, ver-
bleicht die an sich gerechtfertigte ruhmredigkeit der spartischen echt-
bürtigkeit des chores. in ihrer muttersorge und mutterhoffnung liegt
endlich auch das beschlossen, was der zuschauer und noch mehr der leser
von interesse für die Herakleskinder hat, die der dichter nur als stumme
personen eingeführt hat 44). die mutter durfte der tragiker sich ganz

43) Dem nachzugehen ist aufgabe der einzelerklärung. der leser des dramas
muss sich jede scene gespielt denken; das ist für den anfänger schwer. aber wer
sich in die antiken sceniker (Plautus und Terenz eingeschlossen) eingelebt hat, wird
sie in dieser kunst nicht nur meisterhaft, sondern selbst Shakespeare weit überlegen
finden. ihre poesie gibt noch jetzt, ohne bühnenanweisungen, fast immer ein ganz
geschlossenes bild, und jede person hat ihren festen platz. sie haben offenbar die
scenen in ihrer phantasie als gespielte erfunden, und dafür gesorgt, dass sie so ge-
spielt würden, wie sie sie empfunden hatten. die modernen erklärer sind freilich
meist jedes theatralischen sinnes bar, und gar wenn ein moderner regisseur ein
antikes drama einstudirt -- dass gott erbarm'.
44) Euripides hat ja kinder in Alkestis Andromache Hiketiden eingeführt; hier

Aufbau des dramas.
breit macht, ist für den modernen leser wahrlich kein ersatz, war es in
Athen nur für die anhänger des specifisch modernen stils, der in die
poesie eigentlich nicht gehört. wol aber hat Euripides sich hier als
echten dichter wenigstens an einer figur bewährt, die dem fühlenden
leser noch heute das herz bewegt, wenn ihn auch die rhetorik kalt läſst,
und die allerdings den erfahrenen kenner der bühnenwirkung überall,
auch so weit sie in stummem spiele besteht 43), verratende führung der
handlung, nur zu einem kühlen beifall veranlaſst. die gattin des Herakles
ist kein typus wie Lykos und hat nicht bloſs eine relative bedeutung
wie Amphitryon, sie ist ein individuum. der kündiger des weiblichen
herzens hat sich in den wenigen reden, die er Megara geliehen hat, nicht
verleugnet. da ist zwar die äuſserung der empfindung durch die engen
bande der sitte zurückgehalten, welche nun einmal für die attische frau
galt: aber es bedarf für den leser nur der achtsamkeit (für den schau-
spieler also nur des verständigen benutzens der handweisungen des
dichters), um zu bemerken, welches feuer der leidenschaft in ihr kocht.
sie kommt mit ihren reden immer an einem anderen ende an, als sie
beabsichtigt hat, oder muſs gewaltsam zu ihrem thema zurückspringen.
die empfindung und der affect ist stärker als sie. und empfindung und
affect der frau hat recht gegenüber der besonnenen kälte des greises und
dem cynischen verstandesmenschen Lykos, ja selbst gegenüber dem was
Megara ihrem verstande gemäſs wider ihre empfindung sagen will. in
all ihrer schwäche ist die vornehme frau dem gekrönten plebejer über-
legen, und vor ihr, die in ihrem gatten ihren einzigen adel sieht, ver-
bleicht die an sich gerechtfertigte ruhmredigkeit der spartischen echt-
bürtigkeit des chores. in ihrer muttersorge und mutterhoffnung liegt
endlich auch das beschlossen, was der zuschauer und noch mehr der leser
von interesse für die Herakleskinder hat, die der dichter nur als stumme
personen eingeführt hat 44). die mutter durfte der tragiker sich ganz

43) Dem nachzugehen ist aufgabe der einzelerklärung. der leser des dramas
muſs sich jede scene gespielt denken; das ist für den anfänger schwer. aber wer
sich in die antiken sceniker (Plautus und Terenz eingeschlossen) eingelebt hat, wird
sie in dieser kunst nicht nur meisterhaft, sondern selbst Shakespeare weit überlegen
finden. ihre poesie gibt noch jetzt, ohne bühnenanweisungen, fast immer ein ganz
geschlossenes bild, und jede person hat ihren festen platz. sie haben offenbar die
scenen in ihrer phantasie als gespielte erfunden, und dafür gesorgt, daſs sie so ge-
spielt würden, wie sie sie empfunden hatten. die modernen erklärer sind freilich
meist jedes theatralischen sinnes bar, und gar wenn ein moderner regisseur ein
antikes drama einstudirt — daſs gott erbarm’.
44) Euripides hat ja kinder in Alkestis Andromache Hiketiden eingeführt; hier
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[367/0387] Aufbau des dramas. breit macht, ist für den modernen leser wahrlich kein ersatz, war es in Athen nur für die anhänger des specifisch modernen stils, der in die poesie eigentlich nicht gehört. wol aber hat Euripides sich hier als echten dichter wenigstens an einer figur bewährt, die dem fühlenden leser noch heute das herz bewegt, wenn ihn auch die rhetorik kalt läſst, und die allerdings den erfahrenen kenner der bühnenwirkung überall, auch so weit sie in stummem spiele besteht 43), verratende führung der handlung, nur zu einem kühlen beifall veranlaſst. die gattin des Herakles ist kein typus wie Lykos und hat nicht bloſs eine relative bedeutung wie Amphitryon, sie ist ein individuum. der kündiger des weiblichen herzens hat sich in den wenigen reden, die er Megara geliehen hat, nicht verleugnet. da ist zwar die äuſserung der empfindung durch die engen bande der sitte zurückgehalten, welche nun einmal für die attische frau galt: aber es bedarf für den leser nur der achtsamkeit (für den schau- spieler also nur des verständigen benutzens der handweisungen des dichters), um zu bemerken, welches feuer der leidenschaft in ihr kocht. sie kommt mit ihren reden immer an einem anderen ende an, als sie beabsichtigt hat, oder muſs gewaltsam zu ihrem thema zurückspringen. die empfindung und der affect ist stärker als sie. und empfindung und affect der frau hat recht gegenüber der besonnenen kälte des greises und dem cynischen verstandesmenschen Lykos, ja selbst gegenüber dem was Megara ihrem verstande gemäſs wider ihre empfindung sagen will. in all ihrer schwäche ist die vornehme frau dem gekrönten plebejer über- legen, und vor ihr, die in ihrem gatten ihren einzigen adel sieht, ver- bleicht die an sich gerechtfertigte ruhmredigkeit der spartischen echt- bürtigkeit des chores. in ihrer muttersorge und mutterhoffnung liegt endlich auch das beschlossen, was der zuschauer und noch mehr der leser von interesse für die Herakleskinder hat, die der dichter nur als stumme personen eingeführt hat 44). die mutter durfte der tragiker sich ganz 43) Dem nachzugehen ist aufgabe der einzelerklärung. der leser des dramas muſs sich jede scene gespielt denken; das ist für den anfänger schwer. aber wer sich in die antiken sceniker (Plautus und Terenz eingeschlossen) eingelebt hat, wird sie in dieser kunst nicht nur meisterhaft, sondern selbst Shakespeare weit überlegen finden. ihre poesie gibt noch jetzt, ohne bühnenanweisungen, fast immer ein ganz geschlossenes bild, und jede person hat ihren festen platz. sie haben offenbar die scenen in ihrer phantasie als gespielte erfunden, und dafür gesorgt, daſs sie so ge- spielt würden, wie sie sie empfunden hatten. die modernen erklärer sind freilich meist jedes theatralischen sinnes bar, und gar wenn ein moderner regisseur ein antikes drama einstudirt — daſs gott erbarm’. 44) Euripides hat ja kinder in Alkestis Andromache Hiketiden eingeführt; hier

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/387>, abgerufen am 26.04.2024.