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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles des Euripides.
nur die oetäisch aetolischen sagen mussten fortbleiben, denn die gattin
Megara schliesst Deianeira aus. nichts desto weniger ist im einklange mit
dem dodekathlos, den Euripides in seiner bedeutung wol verstand, das
leben mit der dienstbarkeit bei Eurystheus gleich gesetzt. die reinigung
der erde war die lebensaufgabe des Herakles (21), so lange er dabei
beschäftigt war, durfte ihm Hera nichts zu leide tun (828). aber mit der
vollendung seiner aufgabe erhielt Herakles im dodekathlos die ewige selig-
keit: hier verfällt er dem elend. das zu ermöglichen ist künstlich das
hilfsmotiv eingeführt, dass die vollendung zwar sachlich aber noch nicht
formell erfolgt ist, weil der Kerberos noch nicht abgeliefert ist. zum
andern aber war eine selbstverständliche folge, dass nicht die Hesperiden-
fahrt, sondern die heraufholung des Kerberos das zwölfte abenteuer ist.
der Herakles des Euripides kommt nicht mehr als gott in den himmel;
dass er aus dem schlund der hölle emporsteigt um die seinen zu retten
und zu vernichten ist zu dem wirkungsvollsten gegensatze ausgenutzt.
Euripides copirte aber gerade hierin eine eigene ältere erfindung; in
seinem ersten Hippolytos war, wie Senecas nachbildung lehrt, Theseus
in der mitte des stückes unerwartet aus dem Hades heimgekehrt. und
so lag es ihm denn auch hier besonders nahe, Theseus so einzuführen,
dass er eben von Herakles aus der unterirdischen haft erlöst war.

In dieser einführung des Theseus, welcher Herakles nach Athen
zieht und ihm so eine neue heimat schafft, besteht die zweite hauptneuerung.
das fällt als motiv der handlung nicht stark auf die sinne, und es hat
auch die spätere sage unmöglich beherrschen können: es hätte ja die
annexion des Herakles durch Athen bedeutet 33). aber die kühnheit des
dichters ist deshalb nicht niedriger zu schätzen. übrigens fehlte es ihm
nicht an anknüpfungen, und er hat sie ausdrücklich hervorgehoben, wie
gerade diejenigen pflegen, welche eine unwahrscheinliche neuerung ein-
führen wollen. dass die attischen Herakleen eigentlich Theseen wären,
nur von ihrem eigentümer an seinen freund verschenkt, hat genau so,
wie Euripides es hier erzählt, die attische chronik berichtet 34): es ist die

33) Solche verbindung des boeotischen helden mit Athen würde als sage mög-
lich gewesen sein, ja es würde ein ähnliches sich festgesetzt haben, wenn Boeotien
dauernd mit Attika vereinigt worden wäre, wie es in den funfziger jahren, als Euri-
pides jung war, vorübergehend erreicht war. die entfremdung erzeugt dagegen sagen
wie die in Euripides Hiketiden behandelte, deren fassung aber auch je nach dem
politischen winde wechselte, vgl. Isokrates Panath. 168.
34) Philochoros bei Plut. Thes. 35. der vorsichtige atthidograph nimmt
4 Theseen aus, die er also für alt hielt; und im osten des landes mag es deren
wirklich gegeben haben. die uns bekannten Theseen, in der stadt und im Peiraieus,

Der Herakles des Euripides.
nur die oetäisch aetolischen sagen muſsten fortbleiben, denn die gattin
Megara schlieſst Deianeira aus. nichts desto weniger ist im einklange mit
dem dodekathlos, den Euripides in seiner bedeutung wol verstand, das
leben mit der dienstbarkeit bei Eurystheus gleich gesetzt. die reinigung
der erde war die lebensaufgabe des Herakles (21), so lange er dabei
beschäftigt war, durfte ihm Hera nichts zu leide tun (828). aber mit der
vollendung seiner aufgabe erhielt Herakles im dodekathlos die ewige selig-
keit: hier verfällt er dem elend. das zu ermöglichen ist künstlich das
hilfsmotiv eingeführt, daſs die vollendung zwar sachlich aber noch nicht
formell erfolgt ist, weil der Kerberos noch nicht abgeliefert ist. zum
andern aber war eine selbstverständliche folge, daſs nicht die Hesperiden-
fahrt, sondern die heraufholung des Kerberos das zwölfte abenteuer ist.
der Herakles des Euripides kommt nicht mehr als gott in den himmel;
daſs er aus dem schlund der hölle emporsteigt um die seinen zu retten
und zu vernichten ist zu dem wirkungsvollsten gegensatze ausgenutzt.
Euripides copirte aber gerade hierin eine eigene ältere erfindung; in
seinem ersten Hippolytos war, wie Senecas nachbildung lehrt, Theseus
in der mitte des stückes unerwartet aus dem Hades heimgekehrt. und
so lag es ihm denn auch hier besonders nahe, Theseus so einzuführen,
daſs er eben von Herakles aus der unterirdischen haft erlöst war.

In dieser einführung des Theseus, welcher Herakles nach Athen
zieht und ihm so eine neue heimat schafft, besteht die zweite hauptneuerung.
das fällt als motiv der handlung nicht stark auf die sinne, und es hat
auch die spätere sage unmöglich beherrschen können: es hätte ja die
annexion des Herakles durch Athen bedeutet 33). aber die kühnheit des
dichters ist deshalb nicht niedriger zu schätzen. übrigens fehlte es ihm
nicht an anknüpfungen, und er hat sie ausdrücklich hervorgehoben, wie
gerade diejenigen pflegen, welche eine unwahrscheinliche neuerung ein-
führen wollen. daſs die attischen Herakleen eigentlich Theseen wären,
nur von ihrem eigentümer an seinen freund verschenkt, hat genau so,
wie Euripides es hier erzählt, die attische chronik berichtet 34): es ist die

33) Solche verbindung des boeotischen helden mit Athen würde als sage mög-
lich gewesen sein, ja es würde ein ähnliches sich festgesetzt haben, wenn Boeotien
dauernd mit Attika vereinigt worden wäre, wie es in den funfziger jahren, als Euri-
pides jung war, vorübergehend erreicht war. die entfremdung erzeugt dagegen sagen
wie die in Euripides Hiketiden behandelte, deren fassung aber auch je nach dem
politischen winde wechselte, vgl. Isokrates Panath. 168.
34) Philochoros bei Plut. Thes. 35. der vorsichtige atthidograph nimmt
4 Theseen aus, die er also für alt hielt; und im osten des landes mag es deren
wirklich gegeben haben. die uns bekannten Theseen, in der stadt und im Peiraieus,
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[358/0378] Der Herakles des Euripides. nur die oetäisch aetolischen sagen muſsten fortbleiben, denn die gattin Megara schlieſst Deianeira aus. nichts desto weniger ist im einklange mit dem dodekathlos, den Euripides in seiner bedeutung wol verstand, das leben mit der dienstbarkeit bei Eurystheus gleich gesetzt. die reinigung der erde war die lebensaufgabe des Herakles (21), so lange er dabei beschäftigt war, durfte ihm Hera nichts zu leide tun (828). aber mit der vollendung seiner aufgabe erhielt Herakles im dodekathlos die ewige selig- keit: hier verfällt er dem elend. das zu ermöglichen ist künstlich das hilfsmotiv eingeführt, daſs die vollendung zwar sachlich aber noch nicht formell erfolgt ist, weil der Kerberos noch nicht abgeliefert ist. zum andern aber war eine selbstverständliche folge, daſs nicht die Hesperiden- fahrt, sondern die heraufholung des Kerberos das zwölfte abenteuer ist. der Herakles des Euripides kommt nicht mehr als gott in den himmel; daſs er aus dem schlund der hölle emporsteigt um die seinen zu retten und zu vernichten ist zu dem wirkungsvollsten gegensatze ausgenutzt. Euripides copirte aber gerade hierin eine eigene ältere erfindung; in seinem ersten Hippolytos war, wie Senecas nachbildung lehrt, Theseus in der mitte des stückes unerwartet aus dem Hades heimgekehrt. und so lag es ihm denn auch hier besonders nahe, Theseus so einzuführen, daſs er eben von Herakles aus der unterirdischen haft erlöst war. In dieser einführung des Theseus, welcher Herakles nach Athen zieht und ihm so eine neue heimat schafft, besteht die zweite hauptneuerung. das fällt als motiv der handlung nicht stark auf die sinne, und es hat auch die spätere sage unmöglich beherrschen können: es hätte ja die annexion des Herakles durch Athen bedeutet 33). aber die kühnheit des dichters ist deshalb nicht niedriger zu schätzen. übrigens fehlte es ihm nicht an anknüpfungen, und er hat sie ausdrücklich hervorgehoben, wie gerade diejenigen pflegen, welche eine unwahrscheinliche neuerung ein- führen wollen. daſs die attischen Herakleen eigentlich Theseen wären, nur von ihrem eigentümer an seinen freund verschenkt, hat genau so, wie Euripides es hier erzählt, die attische chronik berichtet 34): es ist die 33) Solche verbindung des boeotischen helden mit Athen würde als sage mög- lich gewesen sein, ja es würde ein ähnliches sich festgesetzt haben, wenn Boeotien dauernd mit Attika vereinigt worden wäre, wie es in den funfziger jahren, als Euri- pides jung war, vorübergehend erreicht war. die entfremdung erzeugt dagegen sagen wie die in Euripides Hiketiden behandelte, deren fassung aber auch je nach dem politischen winde wechselte, vgl. Isokrates Panath. 168. 34) Philochoros bei Plut. Thes. 35. der vorsichtige atthidograph nimmt 4 Theseen aus, die er also für alt hielt; und im osten des landes mag es deren wirklich gegeben haben. die uns bekannten Theseen, in der stadt und im Peiraieus,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/378>, abgerufen am 26.04.2024.