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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Deutungen der sage seit dem altertum.
züge vereinigt, die dem Kynismus angehörten, mit solchen, die etwa die
bukolische poesie an dem naiven helden hervorgehoben hatte. Schillers
Ideal und Leben gipfelt in dem gegensatze des auf erden gedrückten und
im himmel verklärten Herakles. er beabsichtigte auch als gegenstück zu
seiner 'elegie' eine 'idylle' zu dichten, deren inhalt die hochzeit des
Herakles mit der Hebe bilden sollte. die forderungen, welche er in der
abhandlung über naive und sentimentalische dichtung für die idylle auf-
stellt, sind in wahrheit gar nicht allgemein gemeint, sondern geben den
gedanken, welchen er in seinem gedichte in die mythologische form kleiden
wollte. "der begriff dieser idylle ist der begriff eines völlig aufgelösten
kampfes sowol in dem einzelnen menschen als in der gesellschaft ....
einer zur höchsten sittlichen würde hinaufgeläuterten natur, kurz er ist
kein anderer als das ideal der schönheit auf das wirkliche leben an-
gewendet". diesen gehalt also legte der philosophische dichter in das
was ihm nur eine bequeme form war. sein gutes recht übte er damit;
aber mit grund ist das gedicht unausgeführt geblieben: der gegensatz
zwischen form und gehalt war zu gross. und dem ernsten echten Hellenen-
tum kann dies ideal der schönheit nur ein sentimentalisches phantasma
sein. das hiess mit dem mythos spielen wie Diotimos oder, wenn man
lieber will, ihn philosophisch verflüchtigen wie Kleanthes.

In feierlichen, von tief religiösem und tief wissenschaftlichem sinne
getragenen worten hat erst Philipp Buttmann 1810 zur feier des ge-
burtstages Friedrichs des grossen ausgeführt, dass "das leben des Herakles
ein schöner und uralter mythos ist, darstellend das ideal menschlicher
vollkommenheit geweihet dem heile der menschheit". damit war das
wesentliche gegeben: der keim war blossgelegt, aus welchem der alte
stamm der sage erwachsen ist, der in dem dodekathlos wenigstens, auf
den auch Buttmann mit entschiedenheit hinwies, die eingeborne art rein
erhalten hat. was nicht zu seinem rechte kam, war das nationale, das
dorische, obwol Buttmann selbst sehr gut wusste, dass jeder alte mythos,
auch wenn er universell gedacht ist, zunächst eine nationale bedeutung

mann und menschen im gegensatz zu den wüsten leibern der gegeneis wie zu den
eleganten Ioniern erfassen. weiter wird auch Herodoros nichts gewollt haben. aber
die peripatetiker Hieronymos und Dikaiarchos (Clemens protr. 2 p. 26 extr.) treiben phy-
siognomonische speculationen, wenn sie auch an die tradition ansetzen. aus Clemens
schöpft Arnobius IV 25, wo nur der name Hieronymus noch erhalten ist: es heisst
das abhängigkeitsverhältnis verkennen, wenn man bei Arnobius ein besonderes Hiero-
nymosbruchstück findet. ob aber Arnobius unmittelbar darauf Plutarch (für die
kynische motivirung des todes, anm. 126) aus eigner kenntnis in die Clemensexcerpte
einfügt, oder ob Clemens unvollständig erhalten ist, verdient ernste erwägung.
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Deutungen der sage seit dem altertum.
züge vereinigt, die dem Kynismus angehörten, mit solchen, die etwa die
bukolische poesie an dem naiven helden hervorgehoben hatte. Schillers
Ideal und Leben gipfelt in dem gegensatze des auf erden gedrückten und
im himmel verklärten Herakles. er beabsichtigte auch als gegenstück zu
seiner ‘elegie’ eine ‘idylle’ zu dichten, deren inhalt die hochzeit des
Herakles mit der Hebe bilden sollte. die forderungen, welche er in der
abhandlung über naive und sentimentalische dichtung für die idylle auf-
stellt, sind in wahrheit gar nicht allgemein gemeint, sondern geben den
gedanken, welchen er in seinem gedichte in die mythologische form kleiden
wollte. “der begriff dieser idylle ist der begriff eines völlig aufgelösten
kampfes sowol in dem einzelnen menschen als in der gesellschaft ....
einer zur höchsten sittlichen würde hinaufgeläuterten natur, kurz er ist
kein anderer als das ideal der schönheit auf das wirkliche leben an-
gewendet”. diesen gehalt also legte der philosophische dichter in das
was ihm nur eine bequeme form war. sein gutes recht übte er damit;
aber mit grund ist das gedicht unausgeführt geblieben: der gegensatz
zwischen form und gehalt war zu groſs. und dem ernsten echten Hellenen-
tum kann dies ideal der schönheit nur ein sentimentalisches phantasma
sein. das hieſs mit dem mythos spielen wie Diotimos oder, wenn man
lieber will, ihn philosophisch verflüchtigen wie Kleanthes.

In feierlichen, von tief religiösem und tief wissenschaftlichem sinne
getragenen worten hat erst Philipp Buttmann 1810 zur feier des ge-
burtstages Friedrichs des groſsen ausgeführt, daſs “das leben des Herakles
ein schöner und uralter mythos ist, darstellend das ideal menschlicher
vollkommenheit geweihet dem heile der menschheit”. damit war das
wesentliche gegeben: der keim war bloſsgelegt, aus welchem der alte
stamm der sage erwachsen ist, der in dem dodekathlos wenigstens, auf
den auch Buttmann mit entschiedenheit hinwies, die eingeborne art rein
erhalten hat. was nicht zu seinem rechte kam, war das nationale, das
dorische, obwol Buttmann selbst sehr gut wuſste, daſs jeder alte mythos,
auch wenn er universell gedacht ist, zunächst eine nationale bedeutung

mann und menschen im gegensatz zu den wüsten leibern der γηγενεῖς wie zu den
eleganten Ioniern erfassen. weiter wird auch Herodoros nichts gewollt haben. aber
die peripatetiker Hieronymos und Dikaiarchos (Clemens protr. 2 p. 26 extr.) treiben phy-
siognomonische speculationen, wenn sie auch an die tradition ansetzen. aus Clemens
schöpft Arnobius IV 25, wo nur der name Hieronymus noch erhalten ist: es heiſst
das abhängigkeitsverhältnis verkennen, wenn man bei Arnobius ein besonderes Hiero-
nymosbruchstück findet. ob aber Arnobius unmittelbar darauf Plutarch (für die
kynische motivirung des todes, anm. 126) aus eigner kenntnis in die Clemensexcerpte
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/359>, abgerufen am 26.04.2024.