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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
jene empfindung erzeugten, auf dass er sie nachempfinden könne, wer
also nicht klüger als die sage und der glaube sein will. das gilt ihrem
gehalte. ihrer form aber sucht er sich zu bemächtigen, indem er sie als
gedicht auffasst, was sie ja ist. deshalb eröffnen nicht die antiken oder
modernen theo- oder mythologen das verständnis der naturreligion, sondern
die grossen dichter alter und auch neuer zeit. ihre gedanken und die
gestalten und geschichten die sie schaffen sind den gedanken der natur-
religion und den gestalten und geschichten der sage brüderlich verwandt.
der Faust hilft zum verständnis des Herakles mehr als Kleanthes und
Iamblichos, Creuzer und Max Müller.

Erst spät ist das verständnis des Herakles wiedergefunden. die
moderne entwickelung musste den weg von der antike, welche man zuerst
wiederfand, der kaiserzeit, erst allmählich zu dem echten altertum empor-
steigen. noch die grossen männer, die das wirkliche Hellenentum er-
weckten, haben Herakles nicht begriffen.

Winckelmann in dem hymnus auf den Torso feiert Herakles etwa
so wie es ein hymnologe, also z. b. Matris von Theben, zu der zeit getan
haben mag, in welcher Apollonios jenes von Winckelmann in einer jetzt
unbegreiflichen weise überschätzte und misverstandene werk für das Pom-
peiustheater verfertigte 129). Zoega arbeitete wie ein trefflicher mythograph,
besser noch als der echte Apollodor, aber man mag ihn doch vergleichen.
Wieland schlug die bahnen des Prodikos wieder ein und wirkte mit
seinem flach moralischen, aber dennoch auch jetzt noch geniessbaren
werke stärker auf den jungen Faustdichter, als dieser eingestand. Goethen
war Herakles der genialische kraftmensch und natursohn 130): da waren

129) Es befremdet zunächst, wird dem nachdenkenden aber ganz begreiflich,
dass die gebrüder Goncourt im torso das höchste der antiken sculptur sehen und zu-
gleich auf cet imbecile Winckelmann schelten. ihnen ist das echthellenische verhasst,
und so sein prophet; sie haben aber ganz recht, Winckelmann zu bekämpfen, wenn
er seine vorstellungen vom echthellenischen in ein werk hineinträgt, das vielmehr
einer cultur angehört, die den Goncourt sympathisch sein muss, weil sie längst vom
hellenischen entartet ist.
130) Belustigend ist, dass Goethe sich Herakles als koloss denkt und Wieland
verhöhnt, der in ihm 'einen stattlichen mann mittlerer grösse' erwartet hat. beide
anschauungen sind im altertum auch mit einander in streit gewesen. aber Pindaros,
der ihn doch zu schätzen wusste, hat Her. onotos men idesthai und morphan brakhus
im gegensatze zu den riesen Orion und Antaios genannt (Isthm. 3, 68). vier ellen
(sechs fuss) oder vier und eine halbe (Herodor im schol. Pind., welches wirklich der
ausschreiber Tzetzes zu Lyk. 662 verbessert), etwas grösser als ein gewöhnlicher
mensch (Plutarch bei Gell. I 1), pflegt er geschätzt zu werden. anders muss natür-
lich die bildende kunst vorgehen. die tradition Pindars will offenbar den dorischen

Der Herakles der sage.
jene empfindung erzeugten, auf daſs er sie nachempfinden könne, wer
also nicht klüger als die sage und der glaube sein will. das gilt ihrem
gehalte. ihrer form aber sucht er sich zu bemächtigen, indem er sie als
gedicht auffaſst, was sie ja ist. deshalb eröffnen nicht die antiken oder
modernen theo- oder mythologen das verständnis der naturreligion, sondern
die groſsen dichter alter und auch neuer zeit. ihre gedanken und die
gestalten und geschichten die sie schaffen sind den gedanken der natur-
religion und den gestalten und geschichten der sage brüderlich verwandt.
der Faust hilft zum verständnis des Herakles mehr als Kleanthes und
Iamblichos, Creuzer und Max Müller.

Erst spät ist das verständnis des Herakles wiedergefunden. die
moderne entwickelung muſste den weg von der antike, welche man zuerst
wiederfand, der kaiserzeit, erst allmählich zu dem echten altertum empor-
steigen. noch die groſsen männer, die das wirkliche Hellenentum er-
weckten, haben Herakles nicht begriffen.

Winckelmann in dem hymnus auf den Torso feiert Herakles etwa
so wie es ein hymnologe, also z. b. Matris von Theben, zu der zeit getan
haben mag, in welcher Apollonios jenes von Winckelmann in einer jetzt
unbegreiflichen weise überschätzte und misverstandene werk für das Pom-
peiustheater verfertigte 129). Zoega arbeitete wie ein trefflicher mythograph,
besser noch als der echte Apollodor, aber man mag ihn doch vergleichen.
Wieland schlug die bahnen des Prodikos wieder ein und wirkte mit
seinem flach moralischen, aber dennoch auch jetzt noch genieſsbaren
werke stärker auf den jungen Faustdichter, als dieser eingestand. Goethen
war Herakles der genialische kraftmensch und natursohn 130): da waren

129) Es befremdet zunächst, wird dem nachdenkenden aber ganz begreiflich,
daſs die gebrüder Goncourt im torso das höchste der antiken sculptur sehen und zu-
gleich auf cet imbécile Winckelmann schelten. ihnen ist das echthellenische verhaſst,
und so sein prophet; sie haben aber ganz recht, Winckelmann zu bekämpfen, wenn
er seine vorstellungen vom echthellenischen in ein werk hineinträgt, das vielmehr
einer cultur angehört, die den Goncourt sympathisch sein muſs, weil sie längst vom
hellenischen entartet ist.
130) Belustigend ist, daſs Goethe sich Herakles als koloſs denkt und Wieland
verhöhnt, der in ihm ‘einen stattlichen mann mittlerer gröſse’ erwartet hat. beide
anschauungen sind im altertum auch mit einander in streit gewesen. aber Pindaros,
der ihn doch zu schätzen wuſste, hat Her. ὀνοτὸς μὲν ἰδέσϑαι und μορφὰν βραχύς
im gegensatze zu den riesen Orion und Antaios genannt (Isthm. 3, 68). vier ellen
(sechs fuſs) oder vier und eine halbe (Herodor im schol. Pind., welches wirklich der
ausschreiber Tzetzes zu Lyk. 662 verbessert), etwas gröſser als ein gewöhnlicher
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lich die bildende kunst vorgehen. die tradition Pindars will offenbar den dorischen
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[338/0358] Der Herakles der sage. jene empfindung erzeugten, auf daſs er sie nachempfinden könne, wer also nicht klüger als die sage und der glaube sein will. das gilt ihrem gehalte. ihrer form aber sucht er sich zu bemächtigen, indem er sie als gedicht auffaſst, was sie ja ist. deshalb eröffnen nicht die antiken oder modernen theo- oder mythologen das verständnis der naturreligion, sondern die groſsen dichter alter und auch neuer zeit. ihre gedanken und die gestalten und geschichten die sie schaffen sind den gedanken der natur- religion und den gestalten und geschichten der sage brüderlich verwandt. der Faust hilft zum verständnis des Herakles mehr als Kleanthes und Iamblichos, Creuzer und Max Müller. Erst spät ist das verständnis des Herakles wiedergefunden. die moderne entwickelung muſste den weg von der antike, welche man zuerst wiederfand, der kaiserzeit, erst allmählich zu dem echten altertum empor- steigen. noch die groſsen männer, die das wirkliche Hellenentum er- weckten, haben Herakles nicht begriffen. Winckelmann in dem hymnus auf den Torso feiert Herakles etwa so wie es ein hymnologe, also z. b. Matris von Theben, zu der zeit getan haben mag, in welcher Apollonios jenes von Winckelmann in einer jetzt unbegreiflichen weise überschätzte und misverstandene werk für das Pom- peiustheater verfertigte 129). Zoega arbeitete wie ein trefflicher mythograph, besser noch als der echte Apollodor, aber man mag ihn doch vergleichen. Wieland schlug die bahnen des Prodikos wieder ein und wirkte mit seinem flach moralischen, aber dennoch auch jetzt noch genieſsbaren werke stärker auf den jungen Faustdichter, als dieser eingestand. Goethen war Herakles der genialische kraftmensch und natursohn 130): da waren 129) Es befremdet zunächst, wird dem nachdenkenden aber ganz begreiflich, daſs die gebrüder Goncourt im torso das höchste der antiken sculptur sehen und zu- gleich auf cet imbécile Winckelmann schelten. ihnen ist das echthellenische verhaſst, und so sein prophet; sie haben aber ganz recht, Winckelmann zu bekämpfen, wenn er seine vorstellungen vom echthellenischen in ein werk hineinträgt, das vielmehr einer cultur angehört, die den Goncourt sympathisch sein muſs, weil sie längst vom hellenischen entartet ist. 130) Belustigend ist, daſs Goethe sich Herakles als koloſs denkt und Wieland verhöhnt, der in ihm ‘einen stattlichen mann mittlerer gröſse’ erwartet hat. beide anschauungen sind im altertum auch mit einander in streit gewesen. aber Pindaros, der ihn doch zu schätzen wuſste, hat Her. ὀνοτὸς μὲν ἰδέσϑαι und μορφὰν βραχύς im gegensatze zu den riesen Orion und Antaios genannt (Isthm. 3, 68). vier ellen (sechs fuſs) oder vier und eine halbe (Herodor im schol. Pind., welches wirklich der ausschreiber Tzetzes zu Lyk. 662 verbessert), etwas gröſser als ein gewöhnlicher mensch (Plutarch bei Gell. I 1), pflegt er geschätzt zu werden. anders muſs natür- lich die bildende kunst vorgehen. die tradition Pindars will offenbar den dorischen

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/358>, abgerufen am 26.04.2024.