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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
haben von hier aus den Apollon Karneios, das fest der Karneia und den
monat Karneion mitgenommen, allein das gedächtnis hat sich nicht ver-
loren, dass sie sich so eine ursprünglich feindliche gottheit gewinnen
wollten10), und in das wesen des Apollon hat das Dorertum keine neuen züge
hineingetragen. die geschichtliche bedeutung Delphis ist allerdings ohne
sie nicht denkbar, aber auch nicht ohne die Athener und Chalkidier. es
erlangt sie gerade dadurch, dass Apollon ein gott ist, den Hellenen und
Dorer gleich hoch schätzen, und wirkt demgemäss sehr stark für die
erweckung des neuen panhellenischen nationalitätsgefühles.

Einwan-
derung in
den Pelo-
ponnes.

Es war nicht ihr freier wille, wenn die Dorer sich am Parnassos
längere zeit aufhielten; es war die folge davon, dass die Peloponnesier
ihnen den einmarsch über den isthmus mit erfolg wehrten. es hatte
nämlich ganz naturgemäss eine starke zuwanderung der aus dem norden,
namentlich aus Thessalien und dem nördlichen Boeotien, vertriebenen
Hellenen nach dem Peloponnes stattgefunden. auch hier war die cultur
ganz vorwiegend auf der ostseite entwickelt; jetzt dehnte sie sich nach
dem westen, namentlich südwesten, mit grösserer stärke aus: dort treffen
wir selbst eine grosse zahl thessalischer ortsnamen wieder, und religion
und sage sind voll von den spuren dieser, um einen späteren volksnamen
vorwegzunehmen, aeolischen zuwanderung: Pylier, Minyer, Lapithen

compromiss. aber nie und nimmer ist das verhältnis dieser brüder ein freund-
liches geworden wie das zwischen Hermes und Apollon, die einst auch mit einander
gestritten haben. es heisst die dinge erst entstellen, damit man sie deute, wenn
man Her. 'den dreifuss', den 'feuertopf' besitzen lässt: einen ganz bestimmten, den
delphischen dreifuss hat er sich genommen, also nicht aus seinem wesen allgemein
oder aus dem des Apollon, sondern aus den besonderen delphischen verhältnissen
ist die sage zu deuten, und ist sie auch leicht verständlich. man kann es aber z. b.
einem künstler nicht verargen, wenn er Her. allein den dreifuss tragend darstellt:
tatsächlich hat er sich des apollinischen heiligtums bemächtigt, und so trägt er etwas
fremdes, wenn er den dreifuss trägt. hätte der dreifuss für das wesen des Her.
eine bedeutung, so müsste er irgendwo in seinem culte vorkommen, oder müsste
doch Her. mit ihm etwas machen wollen. übrigens führt Apollon ihn als wahrsager,
und zwar als wahrsager aus empura: deshalb werden im Ismenion von Theben, wo
die weissagung aus empura galt (Philoch. im schol. Soph. OT. 21), dreifüsse geweiht,
für jeden jüngling, der in das mannesalter tritt, einer, und das ist bekanntlich auch
für Herakles geschehen.
10) In den sagen von Karnos und den orakeln, welche sich auf die einwanderung
beziehen (z. b. bei Oinomaos von Gadara bei Euseb. praep. ev. V 20), ist die gegner-
schaft zwischen den Dorern, die den vertreter Apollons erschlagen, und dem gotte,
der sie durch dunkele sprüche in das verderben lockt, ganz durchsichtig. wir kennen
leider den dorischen cult viel zu wenig, um sicher zu stellen, was man aus manchen
andeutungen schliessen möchte, dass die Karneen wirklich ein sühnfest waren.

Der Herakles der sage.
haben von hier aus den Apollon Karneios, das fest der Κάρνεια und den
monat Καρνειών mitgenommen, allein das gedächtnis hat sich nicht ver-
loren, daſs sie sich so eine ursprünglich feindliche gottheit gewinnen
wollten10), und in das wesen des Apollon hat das Dorertum keine neuen züge
hineingetragen. die geschichtliche bedeutung Delphis ist allerdings ohne
sie nicht denkbar, aber auch nicht ohne die Athener und Chalkidier. es
erlangt sie gerade dadurch, daſs Apollon ein gott ist, den Hellenen und
Dorer gleich hoch schätzen, und wirkt demgemäſs sehr stark für die
erweckung des neuen panhellenischen nationalitätsgefühles.

Einwan-
derung in
den Pelo-
ponnes.

Es war nicht ihr freier wille, wenn die Dorer sich am Parnassos
längere zeit aufhielten; es war die folge davon, daſs die Peloponnesier
ihnen den einmarsch über den isthmus mit erfolg wehrten. es hatte
nämlich ganz naturgemäſs eine starke zuwanderung der aus dem norden,
namentlich aus Thessalien und dem nördlichen Boeotien, vertriebenen
Hellenen nach dem Peloponnes stattgefunden. auch hier war die cultur
ganz vorwiegend auf der ostseite entwickelt; jetzt dehnte sie sich nach
dem westen, namentlich südwesten, mit gröſserer stärke aus: dort treffen
wir selbst eine groſse zahl thessalischer ortsnamen wieder, und religion
und sage sind voll von den spuren dieser, um einen späteren volksnamen
vorwegzunehmen, aeolischen zuwanderung: Pylier, Minyer, Lapithen

compromiſs. aber nie und nimmer ist das verhältnis dieser brüder ein freund-
liches geworden wie das zwischen Hermes und Apollon, die einst auch mit einander
gestritten haben. es heiſst die dinge erst entstellen, damit man sie deute, wenn
man Her. ‘den dreifuſs’, den ‘feuertopf’ besitzen läſst: einen ganz bestimmten, den
delphischen dreifuſs hat er sich genommen, also nicht aus seinem wesen allgemein
oder aus dem des Apollon, sondern aus den besonderen delphischen verhältnissen
ist die sage zu deuten, und ist sie auch leicht verständlich. man kann es aber z. b.
einem künstler nicht verargen, wenn er Her. allein den dreifuſs tragend darstellt:
tatsächlich hat er sich des apollinischen heiligtums bemächtigt, und so trägt er etwas
fremdes, wenn er den dreifuſs trägt. hätte der dreifuſs für das wesen des Her.
eine bedeutung, so müſste er irgendwo in seinem culte vorkommen, oder müſste
doch Her. mit ihm etwas machen wollen. übrigens führt Apollon ihn als wahrsager,
und zwar als wahrsager aus ἔμπυρα: deshalb werden im Ismenion von Theben, wo
die weissagung aus ἔμπυρα galt (Philoch. im schol. Soph. OT. 21), dreifüſse geweiht,
für jeden jüngling, der in das mannesalter tritt, einer, und das ist bekanntlich auch
für Herakles geschehen.
10) In den sagen von Karnos und den orakeln, welche sich auf die einwanderung
beziehen (z. b. bei Oinomaos von Gadara bei Euseb. praep. ev. V 20), ist die gegner-
schaft zwischen den Dorern, die den vertreter Apollons erschlagen, und dem gotte,
der sie durch dunkele sprüche in das verderben lockt, ganz durchsichtig. wir kennen
leider den dorischen cult viel zu wenig, um sicher zu stellen, was man aus manchen
andeutungen schlieſsen möchte, daſs die Karneen wirklich ein sühnfest waren.
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[266/0286] Der Herakles der sage. haben von hier aus den Apollon Karneios, das fest der Κάρνεια und den monat Καρνειών mitgenommen, allein das gedächtnis hat sich nicht ver- loren, daſs sie sich so eine ursprünglich feindliche gottheit gewinnen wollten 10), und in das wesen des Apollon hat das Dorertum keine neuen züge hineingetragen. die geschichtliche bedeutung Delphis ist allerdings ohne sie nicht denkbar, aber auch nicht ohne die Athener und Chalkidier. es erlangt sie gerade dadurch, daſs Apollon ein gott ist, den Hellenen und Dorer gleich hoch schätzen, und wirkt demgemäſs sehr stark für die erweckung des neuen panhellenischen nationalitätsgefühles. Es war nicht ihr freier wille, wenn die Dorer sich am Parnassos längere zeit aufhielten; es war die folge davon, daſs die Peloponnesier ihnen den einmarsch über den isthmus mit erfolg wehrten. es hatte nämlich ganz naturgemäſs eine starke zuwanderung der aus dem norden, namentlich aus Thessalien und dem nördlichen Boeotien, vertriebenen Hellenen nach dem Peloponnes stattgefunden. auch hier war die cultur ganz vorwiegend auf der ostseite entwickelt; jetzt dehnte sie sich nach dem westen, namentlich südwesten, mit gröſserer stärke aus: dort treffen wir selbst eine groſse zahl thessalischer ortsnamen wieder, und religion und sage sind voll von den spuren dieser, um einen späteren volksnamen vorwegzunehmen, aeolischen zuwanderung: Pylier, Minyer, Lapithen 9) 10) In den sagen von Karnos und den orakeln, welche sich auf die einwanderung beziehen (z. b. bei Oinomaos von Gadara bei Euseb. praep. ev. V 20), ist die gegner- schaft zwischen den Dorern, die den vertreter Apollons erschlagen, und dem gotte, der sie durch dunkele sprüche in das verderben lockt, ganz durchsichtig. wir kennen leider den dorischen cult viel zu wenig, um sicher zu stellen, was man aus manchen andeutungen schlieſsen möchte, daſs die Karneen wirklich ein sühnfest waren. 9) compromiſs. aber nie und nimmer ist das verhältnis dieser brüder ein freund- liches geworden wie das zwischen Hermes und Apollon, die einst auch mit einander gestritten haben. es heiſst die dinge erst entstellen, damit man sie deute, wenn man Her. ‘den dreifuſs’, den ‘feuertopf’ besitzen läſst: einen ganz bestimmten, den delphischen dreifuſs hat er sich genommen, also nicht aus seinem wesen allgemein oder aus dem des Apollon, sondern aus den besonderen delphischen verhältnissen ist die sage zu deuten, und ist sie auch leicht verständlich. man kann es aber z. b. einem künstler nicht verargen, wenn er Her. allein den dreifuſs tragend darstellt: tatsächlich hat er sich des apollinischen heiligtums bemächtigt, und so trägt er etwas fremdes, wenn er den dreifuſs trägt. hätte der dreifuſs für das wesen des Her. eine bedeutung, so müſste er irgendwo in seinem culte vorkommen, oder müſste doch Her. mit ihm etwas machen wollen. übrigens führt Apollon ihn als wahrsager, und zwar als wahrsager aus ἔμπυρα: deshalb werden im Ismenion von Theben, wo die weissagung aus ἔμπυρα galt (Philoch. im schol. Soph. OT. 21), dreifüſse geweiht, für jeden jüngling, der in das mannesalter tritt, einer, und das ist bekanntlich auch für Herakles geschehen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/286>, abgerufen am 26.04.2024.