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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Irrwege und irrwische.
lyrischer tragischer gedichte geben soll. es ist in wahrheit ein ärmliches
schema (a b c b a mit geringen variationen), und dichter, die sich diesem
joche gefügt hätten, würden kaum den namen verdienen, aber es liefert
ein so treffliches surrogat des individuellen verständnisses, dass immer
neue bekenner der poetischen chrie aufstehen. die symmetrie, welche
in den erzeugnissen namentlich der archaischen kunst vor aller augen
lag, ist nicht nur mit feinem sinne verfolgt, sondern hat anstoss gegeben
zu einer reihe von entdeckungen auf verschiedenen gebieten, welche sie
auf eine concrete formel bringen wollen; dazu schickt sich am bequemsten
die rohe sinnfällige arithmetische, und so entsteht die lehre von der
herrschaft der zahl. da geht es an ein dividiren von epen und dramen,
an ein auflösen der einzelnen scene oder auch der einzelnen elegie in
ein rechenexempel, es entpuppen die 5 und die 7, die 13 und die 28
sich als die verborgenen tyrannen, deren ketten Hesiod und Aischylos,
Xenophanes und Theokritos getragen haben, und die prosaiker erweisen
wenigstens in den buchzahlen der tetraktys oder pentas ihre hochachtung.
auch aesthetische massstäbe sind ausgeklügelt und a priori ist festgestellt,
was von einem dichter zu fordern wäre. da fand der eine gesetze für
die prologe, der andere für die stichomythie, der dritte für die schlüsse
der dramen, und alle schnitten unbarmherzig das widerstrebende fort.
einer sprach es ganz unbefangen aus, dass einem grossen dichter nur
das beste zugetraut werden dürfe, wenn man also etwas besseres fände
als das überlieferte, dieses bessere für echt zu gelten hätte -- so lange,
natürlich, bis ein noch besseres sich findet. und da zankten sich denn
die verbesserungen um den unschuldigen vers, wie die alten vetteln in
den Ekklesiazusen um den jüngling. vor allem aber führte die logik
ihre mörderische schere. alles entbehrliche ist überflüssig, alles über-
flüssige störend, alles störende unecht. und so viel man im einzelnen
abwich: die harmonie war ungestört, dass eine greuliche bande von
interpolatoren gewütet hätte, und die aussonderung der unechten verse,
mochten nun schauspieler oder grammatiker oder leser für sie verantwort-
lich gemacht werden, war nicht nur des conjectors bequemstes mittelchen,
sondern ward ordentlich in ein system gebracht.

Es würde nun eine grosse unbilligkeit sein, wollte man bestreiten,
dass auf diese weitumfassenden theoreme eine bedeutende kraft von scharf-
sinn und arbeitsenergie verwandt ist, und die summe von begeisterung
in liebe und glauben, die an sie vergeudet ist, nötigt auch dem wider-
strebenden nicht bloss achtung sondern wirkliche teilnahme ab. gewiss,
auch das verkehrteste streben nach einem tieferen verständnisse des kunst-

Irrwege und irrwische.
lyrischer tragischer gedichte geben soll. es ist in wahrheit ein ärmliches
schema (a b c b a mit geringen variationen), und dichter, die sich diesem
joche gefügt hätten, würden kaum den namen verdienen, aber es liefert
ein so treffliches surrogat des individuellen verständnisses, daſs immer
neue bekenner der poetischen chrie aufstehen. die symmetrie, welche
in den erzeugnissen namentlich der archaischen kunst vor aller augen
lag, ist nicht nur mit feinem sinne verfolgt, sondern hat anstoſs gegeben
zu einer reihe von entdeckungen auf verschiedenen gebieten, welche sie
auf eine concrete formel bringen wollen; dazu schickt sich am bequemsten
die rohe sinnfällige arithmetische, und so entsteht die lehre von der
herrschaft der zahl. da geht es an ein dividiren von epen und dramen,
an ein auflösen der einzelnen scene oder auch der einzelnen elegie in
ein rechenexempel, es entpuppen die 5 und die 7, die 13 und die 28
sich als die verborgenen tyrannen, deren ketten Hesiod und Aischylos,
Xenophanes und Theokritos getragen haben, und die prosaiker erweisen
wenigstens in den buchzahlen der tetraktys oder pentas ihre hochachtung.
auch aesthetische maſsstäbe sind ausgeklügelt und a priori ist festgestellt,
was von einem dichter zu fordern wäre. da fand der eine gesetze für
die prologe, der andere für die stichomythie, der dritte für die schlüsse
der dramen, und alle schnitten unbarmherzig das widerstrebende fort.
einer sprach es ganz unbefangen aus, daſs einem groſsen dichter nur
das beste zugetraut werden dürfe, wenn man also etwas besseres fände
als das überlieferte, dieses bessere für echt zu gelten hätte — so lange,
natürlich, bis ein noch besseres sich findet. und da zankten sich denn
die verbesserungen um den unschuldigen vers, wie die alten vetteln in
den Ekklesiazusen um den jüngling. vor allem aber führte die logik
ihre mörderische schere. alles entbehrliche ist überflüssig, alles über-
flüssige störend, alles störende unecht. und so viel man im einzelnen
abwich: die harmonie war ungestört, daſs eine greuliche bande von
interpolatoren gewütet hätte, und die aussonderung der unechten verse,
mochten nun schauspieler oder grammatiker oder leser für sie verantwort-
lich gemacht werden, war nicht nur des conjectors bequemstes mittelchen,
sondern ward ordentlich in ein system gebracht.

Es würde nun eine groſse unbilligkeit sein, wollte man bestreiten,
daſs auf diese weitumfassenden theoreme eine bedeutende kraft von scharf-
sinn und arbeitsenergie verwandt ist, und die summe von begeisterung
in liebe und glauben, die an sie vergeudet ist, nötigt auch dem wider-
strebenden nicht bloſs achtung sondern wirkliche teilnahme ab. gewiſs,
auch das verkehrteste streben nach einem tieferen verständnisse des kunst-

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[249/0269] Irrwege und irrwische. lyrischer tragischer gedichte geben soll. es ist in wahrheit ein ärmliches schema (a b c b a mit geringen variationen), und dichter, die sich diesem joche gefügt hätten, würden kaum den namen verdienen, aber es liefert ein so treffliches surrogat des individuellen verständnisses, daſs immer neue bekenner der poetischen chrie aufstehen. die symmetrie, welche in den erzeugnissen namentlich der archaischen kunst vor aller augen lag, ist nicht nur mit feinem sinne verfolgt, sondern hat anstoſs gegeben zu einer reihe von entdeckungen auf verschiedenen gebieten, welche sie auf eine concrete formel bringen wollen; dazu schickt sich am bequemsten die rohe sinnfällige arithmetische, und so entsteht die lehre von der herrschaft der zahl. da geht es an ein dividiren von epen und dramen, an ein auflösen der einzelnen scene oder auch der einzelnen elegie in ein rechenexempel, es entpuppen die 5 und die 7, die 13 und die 28 sich als die verborgenen tyrannen, deren ketten Hesiod und Aischylos, Xenophanes und Theokritos getragen haben, und die prosaiker erweisen wenigstens in den buchzahlen der tetraktys oder pentas ihre hochachtung. auch aesthetische maſsstäbe sind ausgeklügelt und a priori ist festgestellt, was von einem dichter zu fordern wäre. da fand der eine gesetze für die prologe, der andere für die stichomythie, der dritte für die schlüsse der dramen, und alle schnitten unbarmherzig das widerstrebende fort. einer sprach es ganz unbefangen aus, daſs einem groſsen dichter nur das beste zugetraut werden dürfe, wenn man also etwas besseres fände als das überlieferte, dieses bessere für echt zu gelten hätte — so lange, natürlich, bis ein noch besseres sich findet. und da zankten sich denn die verbesserungen um den unschuldigen vers, wie die alten vetteln in den Ekklesiazusen um den jüngling. vor allem aber führte die logik ihre mörderische schere. alles entbehrliche ist überflüssig, alles über- flüssige störend, alles störende unecht. und so viel man im einzelnen abwich: die harmonie war ungestört, daſs eine greuliche bande von interpolatoren gewütet hätte, und die aussonderung der unechten verse, mochten nun schauspieler oder grammatiker oder leser für sie verantwort- lich gemacht werden, war nicht nur des conjectors bequemstes mittelchen, sondern ward ordentlich in ein system gebracht. Es würde nun eine groſse unbilligkeit sein, wollte man bestreiten, daſs auf diese weitumfassenden theoreme eine bedeutende kraft von scharf- sinn und arbeitsenergie verwandt ist, und die summe von begeisterung in liebe und glauben, die an sie vergeudet ist, nötigt auch dem wider- strebenden nicht bloſs achtung sondern wirkliche teilnahme ab. gewiſs, auch das verkehrteste streben nach einem tieferen verständnisse des kunst-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/269>, abgerufen am 26.04.2024.