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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
(E. Med. 910), wie Trach. 781. 82 188), Hipp. 953, Med. 748. aber vor allen
dingen freuen wir uns daran, dass die fehler so wenig sind. und das
weiss man dann auch, dass die menschen sich lächerlich machen, die in
diesen dramen mit ihren palaeographischen witzchen kommen, den ähn-
lichkeiten der minuskelschrift, den compendien, wo möglich gar dem vetus
codex
in dem ein par buchstaben unlesbar waren, die der protervus
magistellus
dumm ausfüllt: der vetus codex müsste ja dem Aristophanes
vorgelegen haben, und dieser der protervus magistellus gewesen sein. wir
lachen auch über die häscher der glosseme, die einem ihnen nicht er-
haben genug klingenden worte ansehen, dass es ein schulmeister oder
leser aus der zeit des Kallimachos oder Apollodor übergeschrieben hat
(aus dem Hesych, scheint's, denn so reden sie), dessen handexemplar
darauf der archetypus aller folgenden handschriften ward. die textge-
schichte lehrt freilich die vielen gefahren kennen, die unsern text bedroht
haben, sie lehrt uns die unvermeidliche verderbnis schätzen und gibt uns
hilfsmittel sie zu heben: aber die hauptsache, die sie lehrt, ist, dass sie
die grenzen der möglichen verderbnis und unserer meinungsfreiheit be-
zeichnet.

Sie umfriedigt ein weites gebiet, auf dem es nicht verstattet ist, das
conjecturale rösslein zu tummeln; was darauf steht, das muss stehen bleiben
und verlangt verständnis zwar, auch vielleicht tadel: aber es gehört dem
dichter an, und jeder einbruch ist ein raub. auf diesem gebiete hat sich
der philologe heimisch zu machen, und dann mag er zusehen, dass er
die grenzen immer weiter für den dichter ausdehne, teils wider moderne
ansprüche verteidigend, teils wider die täuschende überlieferung, die in
wahrheit keine ist, erobernd.

Recensio
und emen-
datio in den
tragödien
der
gesammt-
ausgabe.

Und es ist dafür gesorgt, dass auch der conjectur ein weiter spiel-
raum bleibe. denn dieselbe textgeschichte, welche in Hekabe und Hippo-
lytos fast jede conjectur verbietet, fordert sie in den dramen, welche auf
die gesammtausgabe zurückgehn, auf schritt und tritt, und gibt schliess-
lich doch nur eine geringe gewähr für die erreichung des echten. da
ist sprachgefühl, geschmack, nachschaffende phantasie nötig, jene impon-
derabilien, die den wirklichen philologen machen, die nicht gelehrt und
nicht bewiesen, auch nur zum teil gelernt werden können.

Mit der recensio ist man gleich zu ende. drei vier kleinigkeiten hilft
P beseitigen, dann darf C mit seiner vorlage identificirt werden; das ist
ein minuskelcodex, wenn's hoch kommt des 11. jahrhunderts. und auf

188) Der überlieferte gallimathias ist ebenso von dem Athener Apollodor gelesen,
Athen. II 66a.

Geschichte des tragikertextes.
(E. Med. 910), wie Trach. 781. 82 188), Hipp. 953, Med. 748. aber vor allen
dingen freuen wir uns daran, daſs die fehler so wenig sind. und das
weiſs man dann auch, daſs die menschen sich lächerlich machen, die in
diesen dramen mit ihren palaeographischen witzchen kommen, den ähn-
lichkeiten der minuskelschrift, den compendien, wo möglich gar dem vetus
codex
in dem ein par buchstaben unlesbar waren, die der protervus
magistellus
dumm ausfüllt: der vetus codex müſste ja dem Aristophanes
vorgelegen haben, und dieser der protervus magistellus gewesen sein. wir
lachen auch über die häscher der glosseme, die einem ihnen nicht er-
haben genug klingenden worte ansehen, daſs es ein schulmeister oder
leser aus der zeit des Kallimachos oder Apollodor übergeschrieben hat
(aus dem Hesych, scheint’s, denn so reden sie), dessen handexemplar
darauf der archetypus aller folgenden handschriften ward. die textge-
schichte lehrt freilich die vielen gefahren kennen, die unsern text bedroht
haben, sie lehrt uns die unvermeidliche verderbnis schätzen und gibt uns
hilfsmittel sie zu heben: aber die hauptsache, die sie lehrt, ist, daſs sie
die grenzen der möglichen verderbnis und unserer meinungsfreiheit be-
zeichnet.

Sie umfriedigt ein weites gebiet, auf dem es nicht verstattet ist, das
conjecturale röſslein zu tummeln; was darauf steht, das muſs stehen bleiben
und verlangt verständnis zwar, auch vielleicht tadel: aber es gehört dem
dichter an, und jeder einbruch ist ein raub. auf diesem gebiete hat sich
der philologe heimisch zu machen, und dann mag er zusehen, daſs er
die grenzen immer weiter für den dichter ausdehne, teils wider moderne
ansprüche verteidigend, teils wider die täuschende überlieferung, die in
wahrheit keine ist, erobernd.

Recensio
und emen-
datio in den
tragödien
der
gesammt-
ausgabe.

Und es ist dafür gesorgt, daſs auch der conjectur ein weiter spiel-
raum bleibe. denn dieselbe textgeschichte, welche in Hekabe und Hippo-
lytos fast jede conjectur verbietet, fordert sie in den dramen, welche auf
die gesammtausgabe zurückgehn, auf schritt und tritt, und gibt schlieſs-
lich doch nur eine geringe gewähr für die erreichung des echten. da
ist sprachgefühl, geschmack, nachschaffende phantasie nötig, jene impon-
derabilien, die den wirklichen philologen machen, die nicht gelehrt und
nicht bewiesen, auch nur zum teil gelernt werden können.

Mit der recensio ist man gleich zu ende. drei vier kleinigkeiten hilft
P beseitigen, dann darf C mit seiner vorlage identificirt werden; das ist
ein minuskelcodex, wenn’s hoch kommt des 11. jahrhunderts. und auf

188) Der überlieferte gallimathias ist ebenso von dem Athener Apollodor gelesen,
Athen. II 66a.
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[216/0236] Geschichte des tragikertextes. (E. Med. 910), wie Trach. 781. 82 188), Hipp. 953, Med. 748. aber vor allen dingen freuen wir uns daran, daſs die fehler so wenig sind. und das weiſs man dann auch, daſs die menschen sich lächerlich machen, die in diesen dramen mit ihren palaeographischen witzchen kommen, den ähn- lichkeiten der minuskelschrift, den compendien, wo möglich gar dem vetus codex in dem ein par buchstaben unlesbar waren, die der protervus magistellus dumm ausfüllt: der vetus codex müſste ja dem Aristophanes vorgelegen haben, und dieser der protervus magistellus gewesen sein. wir lachen auch über die häscher der glosseme, die einem ihnen nicht er- haben genug klingenden worte ansehen, daſs es ein schulmeister oder leser aus der zeit des Kallimachos oder Apollodor übergeschrieben hat (aus dem Hesych, scheint’s, denn so reden sie), dessen handexemplar darauf der archetypus aller folgenden handschriften ward. die textge- schichte lehrt freilich die vielen gefahren kennen, die unsern text bedroht haben, sie lehrt uns die unvermeidliche verderbnis schätzen und gibt uns hilfsmittel sie zu heben: aber die hauptsache, die sie lehrt, ist, daſs sie die grenzen der möglichen verderbnis und unserer meinungsfreiheit be- zeichnet. Sie umfriedigt ein weites gebiet, auf dem es nicht verstattet ist, das conjecturale röſslein zu tummeln; was darauf steht, das muſs stehen bleiben und verlangt verständnis zwar, auch vielleicht tadel: aber es gehört dem dichter an, und jeder einbruch ist ein raub. auf diesem gebiete hat sich der philologe heimisch zu machen, und dann mag er zusehen, daſs er die grenzen immer weiter für den dichter ausdehne, teils wider moderne ansprüche verteidigend, teils wider die täuschende überlieferung, die in wahrheit keine ist, erobernd. Und es ist dafür gesorgt, daſs auch der conjectur ein weiter spiel- raum bleibe. denn dieselbe textgeschichte, welche in Hekabe und Hippo- lytos fast jede conjectur verbietet, fordert sie in den dramen, welche auf die gesammtausgabe zurückgehn, auf schritt und tritt, und gibt schlieſs- lich doch nur eine geringe gewähr für die erreichung des echten. da ist sprachgefühl, geschmack, nachschaffende phantasie nötig, jene impon- derabilien, die den wirklichen philologen machen, die nicht gelehrt und nicht bewiesen, auch nur zum teil gelernt werden können. Mit der recensio ist man gleich zu ende. drei vier kleinigkeiten hilft P beseitigen, dann darf C mit seiner vorlage identificirt werden; das ist ein minuskelcodex, wenn’s hoch kommt des 11. jahrhunderts. und auf 188) Der überlieferte gallimathias ist ebenso von dem Athener Apollodor gelesen, Athen. II 66a.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/236>, abgerufen am 26.04.2024.