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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Mythographie.
auszüge zu machen, von moralischem gesichtspunkte und zunächst für den
jugendunterricht, stammt aus dem vierten jahrhundert: die elegiensamm-
lung, die nach Theognis heisst, ist der älteste beleg. die tragiker und
zumal den sentenzenreichen Euripides für die moralische paraenese aus-
zunutzen ist auch schon im vierten jahrhundert begonnen und hat nie
aufgehört. aber wir hören nichts von florilegien in der zeit des alter-
tums, noch weniger von leuten, die sie verfertigen. es ist das ja auch
ein sehr untergeordnetes geschäft und keine litteraturgattung, die in
ehren steht; um so mehr wird sie gebraucht. wir besitzen erst die
kleine sammlung des Orion und dann die grosse des Stobaeus aus der
allerletzten zeit des altertums: aber es hiesse die ganze textgeschichte
auf den kopf stellen, wollte man annehmen, dass diese leute ihren poe-
tischen stoff selbst gesammelt hätten. sie haben dafür lediglich vorhandene
florilegien ausgeschrieben. und dass solche, und zwar dieselben, welche
Stobaeus vorlagen, schon im 2. jahrhundert n. Chr. vorhanden waren,
lehrt ihre benutzung durch Clemens von Alexandreia und Theophilos von
Antiocheia. Clemens ist ein schriftsteller, der die gepflogenheiten seiner
zeit, das erheucheln einer profunden gelehrsamkeit und verstecken der
sehr trivialen handbücher, aus denen sie stammt, aus dem grunde versteht:
aber wer da weiss, wie viele und seltene dichterstellen bei Clemens und
Stobaeus übereinstimmend stehen, wird keinen augenblick über die ur-
sache dieser übereinstimmung in zweifel sein. Theophilos ist ein plumper
plebejer: bei ihm liegen die ganzen reihen vor 100). in diese gesellschaft
waren also unter kaiser Marcus die florilegien geraten, wo man doch weder
die verse verstand noch sich um die verfasser kümmerte. wie viele jahr-
hunderte früher sie angelegt waren, stehe dahin: aber an nachchristliche
zeit zu denken verbietet die geschichte der antiken bildung. wir haben
also die citate bei Stobaeus und seinen ausschreibern 101) oder mitaus-
schreibern als eine spätestens in der zeit des Didymos von den dichter-
handschriften abgezweigte überlieferung anzusehen, für die so eine äusserst
wertvolle controlle erwächst. dies wird zwar beeinträchtigt durch die un-

100) Der wichtige nachweis ist durch Diels, Rh. M. 30, geliefert. Diels setzt
das urflorilegium in das 1. jahrhundert v. Chr., zwar auf einen ungenügenden anhalt
hin, aber in der sache hat er sicherlich recht. die analyse wird, sobald die über-
lieferung des florilegiums festgestellt sein wird, sehr vieles mit sicherheit ermitteln
können. bisher ist für die classische litteratur nichts brauchbares geschehen.
101) Alle Byzantiner hängen von Stobaeus ab, abgerechnet solche die ledig-
lich aus erhaltenem schöpfen und eine gesonderte überlieferung haben. diese sind
aber wertlos. so z. b. ein euripidisches gnomologium in einer Venediger handschrift,
Ritschls Acta VI 333.

Mythographie.
auszüge zu machen, von moralischem gesichtspunkte und zunächst für den
jugendunterricht, stammt aus dem vierten jahrhundert: die elegiensamm-
lung, die nach Theognis heiſst, ist der älteste beleg. die tragiker und
zumal den sentenzenreichen Euripides für die moralische paraenese aus-
zunutzen ist auch schon im vierten jahrhundert begonnen und hat nie
aufgehört. aber wir hören nichts von florilegien in der zeit des alter-
tums, noch weniger von leuten, die sie verfertigen. es ist das ja auch
ein sehr untergeordnetes geschäft und keine litteraturgattung, die in
ehren steht; um so mehr wird sie gebraucht. wir besitzen erst die
kleine sammlung des Orion und dann die groſse des Stobaeus aus der
allerletzten zeit des altertums: aber es hieſse die ganze textgeschichte
auf den kopf stellen, wollte man annehmen, daſs diese leute ihren poe-
tischen stoff selbst gesammelt hätten. sie haben dafür lediglich vorhandene
florilegien ausgeschrieben. und daſs solche, und zwar dieselben, welche
Stobaeus vorlagen, schon im 2. jahrhundert n. Chr. vorhanden waren,
lehrt ihre benutzung durch Clemens von Alexandreia und Theophilos von
Antiocheia. Clemens ist ein schriftsteller, der die gepflogenheiten seiner
zeit, das erheucheln einer profunden gelehrsamkeit und verstecken der
sehr trivialen handbücher, aus denen sie stammt, aus dem grunde versteht:
aber wer da weiſs, wie viele und seltene dichterstellen bei Clemens und
Stobaeus übereinstimmend stehen, wird keinen augenblick über die ur-
sache dieser übereinstimmung in zweifel sein. Theophilos ist ein plumper
plebejer: bei ihm liegen die ganzen reihen vor 100). in diese gesellschaft
waren also unter kaiser Marcus die florilegien geraten, wo man doch weder
die verse verstand noch sich um die verfasser kümmerte. wie viele jahr-
hunderte früher sie angelegt waren, stehe dahin: aber an nachchristliche
zeit zu denken verbietet die geschichte der antiken bildung. wir haben
also die citate bei Stobaeus und seinen ausschreibern 101) oder mitaus-
schreibern als eine spätestens in der zeit des Didymos von den dichter-
handschriften abgezweigte überlieferung anzusehen, für die so eine äuſserst
wertvolle controlle erwächst. dies wird zwar beeinträchtigt durch die un-

100) Der wichtige nachweis ist durch Diels, Rh. M. 30, geliefert. Diels setzt
das urflorilegium in das 1. jahrhundert v. Chr., zwar auf einen ungenügenden anhalt
hin, aber in der sache hat er sicherlich recht. die analyse wird, sobald die über-
lieferung des florilegiums festgestellt sein wird, sehr vieles mit sicherheit ermitteln
können. bisher ist für die classische litteratur nichts brauchbares geschehen.
101) Alle Byzantiner hängen von Stobaeus ab, abgerechnet solche die ledig-
lich aus erhaltenem schöpfen und eine gesonderte überlieferung haben. diese sind
aber wertlos. so z. b. ein euripidisches gnomologium in einer Venediger handschrift,
Ritschls Acta VI 333.
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[171/0191] Mythographie. auszüge zu machen, von moralischem gesichtspunkte und zunächst für den jugendunterricht, stammt aus dem vierten jahrhundert: die elegiensamm- lung, die nach Theognis heiſst, ist der älteste beleg. die tragiker und zumal den sentenzenreichen Euripides für die moralische paraenese aus- zunutzen ist auch schon im vierten jahrhundert begonnen und hat nie aufgehört. aber wir hören nichts von florilegien in der zeit des alter- tums, noch weniger von leuten, die sie verfertigen. es ist das ja auch ein sehr untergeordnetes geschäft und keine litteraturgattung, die in ehren steht; um so mehr wird sie gebraucht. wir besitzen erst die kleine sammlung des Orion und dann die groſse des Stobaeus aus der allerletzten zeit des altertums: aber es hieſse die ganze textgeschichte auf den kopf stellen, wollte man annehmen, daſs diese leute ihren poe- tischen stoff selbst gesammelt hätten. sie haben dafür lediglich vorhandene florilegien ausgeschrieben. und daſs solche, und zwar dieselben, welche Stobaeus vorlagen, schon im 2. jahrhundert n. Chr. vorhanden waren, lehrt ihre benutzung durch Clemens von Alexandreia und Theophilos von Antiocheia. Clemens ist ein schriftsteller, der die gepflogenheiten seiner zeit, das erheucheln einer profunden gelehrsamkeit und verstecken der sehr trivialen handbücher, aus denen sie stammt, aus dem grunde versteht: aber wer da weiſs, wie viele und seltene dichterstellen bei Clemens und Stobaeus übereinstimmend stehen, wird keinen augenblick über die ur- sache dieser übereinstimmung in zweifel sein. Theophilos ist ein plumper plebejer: bei ihm liegen die ganzen reihen vor 100). in diese gesellschaft waren also unter kaiser Marcus die florilegien geraten, wo man doch weder die verse verstand noch sich um die verfasser kümmerte. wie viele jahr- hunderte früher sie angelegt waren, stehe dahin: aber an nachchristliche zeit zu denken verbietet die geschichte der antiken bildung. wir haben also die citate bei Stobaeus und seinen ausschreibern 101) oder mitaus- schreibern als eine spätestens in der zeit des Didymos von den dichter- handschriften abgezweigte überlieferung anzusehen, für die so eine äuſserst wertvolle controlle erwächst. dies wird zwar beeinträchtigt durch die un- 100) Der wichtige nachweis ist durch Diels, Rh. M. 30, geliefert. Diels setzt das urflorilegium in das 1. jahrhundert v. Chr., zwar auf einen ungenügenden anhalt hin, aber in der sache hat er sicherlich recht. die analyse wird, sobald die über- lieferung des florilegiums festgestellt sein wird, sehr vieles mit sicherheit ermitteln können. bisher ist für die classische litteratur nichts brauchbares geschehen. 101) Alle Byzantiner hängen von Stobaeus ab, abgerechnet solche die ledig- lich aus erhaltenem schöpfen und eine gesonderte überlieferung haben. diese sind aber wertlos. so z. b. ein euripidisches gnomologium in einer Venediger handschrift, Ritschls Acta VI 333.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/191>, abgerufen am 26.04.2024.