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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
mit diesen reichen schätzen zu wirtschaften, der sie nicht fortwährend
mit einander vergleicht und als einheitliche masse betrachtet. ganz deut-
lich aber ist, dass diese befruchtung der römischen studien im ersten
jahrhundert schon stattgefunden hat: sie verfügt über einen reichtum,
von welchem die nächste periode schon weit entfernt ist.

Nun würde es freilich verkehrt sein, wollte man bestreiten, dass
randnotizen, auch gelehrten inhaltes, den älteren handschriften fremd
gewesen wären. die scholien, welche Simplicius in der Parmenideshand-
schrift vorfand, die er benutzte, sind in sehr früher zeit, wol nicht nach
dem 3. jahrhundert v. Chr., beigefügt. die scholien zu den briefen Epi-
kurs, welche Diogenes mit dem texte aufgenommen hat, sind verfasst,
als die fülle der epikurischen werke noch gelesen ward: das ist in der
kaiserzeit nicht glaublich. die parallelstellen, welche wir in den dichtern
vorfinden, die zusätze, welche unzweifelhaft einzeln in Xenophons Kyro-
paedie Anabasis Hellenika stecken, stammen vom rande; auch die hypo-
thesen des Aristophanes sind ja etwas ähnliches. aber es ist doch noch
ein unterschied. in der kaiserzeit ist der text mit scholien eine legitime
form des buches, ist er die legitime form der gelehrten erklärung.

Mythogra-
phie.

In diesen scholien, und zwar zu allen classikern, und bei Griechen
und Römern gleichermassen, findet sich eine überaus reiche und ge-
lehrte mythographische schicht. Alkman und Lucan, Homer und Statius,
Aischylos und Lykophron, alle zeigen reste derselben ungeheuren sammel-
gelehrsamkeit. und ebendieselbe finden wir in den compendien vor, die
wir freilich erst in sehr jungen fassungen unter den gleichgiltigen, um der
berühmtheit ihrer längst vergessenen träger willen gewählten namen Era-
tosthenes Apollodoros Hyginus besitzen. und dieselbe gelehrsamkeit sehen
wir mit verschweigung ihrer herkunft von den litteraten auf den markt
gebracht, von Pausanias und Aclian und Athenaeus, wo man sich nicht
wundert, aber auch schon von Diodor. ja, es ist die einleuchtende ver-
mutung ausgesprochen, dass Ovid die stoffe seiner Metamorphosen zum
teil aus dieser selben quelle hat 95). dass Theon für die scholien zu den
Alexandrinischen dichtern und dadurch für die römischen scholien der
hauptvermittler gewesen ist, erkennt man wol. auch Pamphilos kommt

naivster weise zu prolegomena der vergilischen Eklogen umgeformt, erhalten in
den Probusscholien, Bernerscholien und bei Diomedes III. die wissenschaft fordert
dringend, dass die anlehen, welche die römische grammatik bei der griechischen ge-
macht hat, zurückgezahlt werden: die scholien nicht nur der Alexandriner, sondern
selbst die Homerischen, werden dann ein anderes ansehen gewinnen.
95) Bethe de Diodori lib. IV (Göttingen 1887), p. 97.

Geschichte des tragikertextes.
mit diesen reichen schätzen zu wirtschaften, der sie nicht fortwährend
mit einander vergleicht und als einheitliche masse betrachtet. ganz deut-
lich aber ist, daſs diese befruchtung der römischen studien im ersten
jahrhundert schon stattgefunden hat: sie verfügt über einen reichtum,
von welchem die nächste periode schon weit entfernt ist.

Nun würde es freilich verkehrt sein, wollte man bestreiten, daſs
randnotizen, auch gelehrten inhaltes, den älteren handschriften fremd
gewesen wären. die scholien, welche Simplicius in der Parmenideshand-
schrift vorfand, die er benutzte, sind in sehr früher zeit, wol nicht nach
dem 3. jahrhundert v. Chr., beigefügt. die scholien zu den briefen Epi-
kurs, welche Diogenes mit dem texte aufgenommen hat, sind verfaſst,
als die fülle der epikurischen werke noch gelesen ward: das ist in der
kaiserzeit nicht glaublich. die parallelstellen, welche wir in den dichtern
vorfinden, die zusätze, welche unzweifelhaft einzeln in Xenophons Kyro-
paedie Anabasis Hellenika stecken, stammen vom rande; auch die hypo-
thesen des Aristophanes sind ja etwas ähnliches. aber es ist doch noch
ein unterschied. in der kaiserzeit ist der text mit scholien eine legitime
form des buches, ist er die legitime form der gelehrten erklärung.

Mythogra-
phie.

In diesen scholien, und zwar zu allen classikern, und bei Griechen
und Römern gleichermaſsen, findet sich eine überaus reiche und ge-
lehrte mythographische schicht. Alkman und Lucan, Homer und Statius,
Aischylos und Lykophron, alle zeigen reste derselben ungeheuren sammel-
gelehrsamkeit. und ebendieselbe finden wir in den compendien vor, die
wir freilich erst in sehr jungen fassungen unter den gleichgiltigen, um der
berühmtheit ihrer längst vergessenen träger willen gewählten namen Era-
tosthenes Apollodoros Hyginus besitzen. und dieselbe gelehrsamkeit sehen
wir mit verschweigung ihrer herkunft von den litteraten auf den markt
gebracht, von Pausanias und Aclian und Athenaeus, wo man sich nicht
wundert, aber auch schon von Diodor. ja, es ist die einleuchtende ver-
mutung ausgesprochen, daſs Ovid die stoffe seiner Metamorphosen zum
teil aus dieser selben quelle hat 95). daſs Theon für die scholien zu den
Alexandrinischen dichtern und dadurch für die römischen scholien der
hauptvermittler gewesen ist, erkennt man wol. auch Pamphilos kommt

naivster weise zu prolegomena der vergilischen Eklogen umgeformt, erhalten in
den Probusscholien, Bernerscholien und bei Diomedes III. die wissenschaft fordert
dringend, daſs die anlehen, welche die römische grammatik bei der griechischen ge-
macht hat, zurückgezahlt werden: die scholien nicht nur der Alexandriner, sondern
selbst die Homerischen, werden dann ein anderes ansehen gewinnen.
95) Bethe de Diodori lib. IV (Göttingen 1887), p. 97.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/188>, abgerufen am 27.04.2024.