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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die tragödie ein buch.
berechnet, und die gelegenheiten zu einer wiederholung waren zuerst
gar nicht vorhanden, später kümmerlich. der umfang der gedichte schloss
die bewältigung durch das gedächtnis aus, zumal jedes jahr neues gleich-
wertiges brachte. auch ward Athen zwar von tag zu tag mehr die geistige
hauptstadt, aber längst nicht jeder, der an der tragischen poesie anteil
nehmen wollte, konnte die attischen aufführungen besuchen. den Homer
kannte ein um 500 geborner aus der schule, den Theognis und einiges
von Stesichoros auch: von Simonides dies oder jenes kennen zu lernen,
fand sich wol die gelegenheit. es war nicht so viel was die litteratur
der letzten zeiten erzeugt hatte: aber nun, die fülle von tragödien -- es
gab kein anderes mittel sie kennen zu lernen als die lectüre: das buch
war für das publicum ein bedürfnis. die dichter aber erhoben den an-
spruch die lehrer des ganzen volkes zu sein, sehr viel bewusster als Homer,
sehr viel mehr ins weite als Pindar. durch die einmalige aufführung
konnten sie die gewollte wirkung nicht ausüben; es lag also auch für
sie das bedürfnis vor dauernd mit dem publicum zu verkehren, durch
das buch zu wirken. und die centralisirung des geistigen lebens fiel
mit dem wirtschaftlichen aufschwunge Athens zusammen, so dass die mög-
lichkeit für einen buchhandel gegeben war. all das führte mit notwendig-
keit zur veröffentlichung des dramas durch den dichter für die lectüre.

Von einem buchhandel, dem exporte von büchern, dem vertriebe auf
dem attischen bazar hören wir durch allbekannte schriftstellen seit dem
ende des 5. jahrhunderts. dass die werke der tragiker in den händen
des publicums vorauszusetzen sind, sagt ausdrücklich Aristophanes auch
erst in den Fröschen (1113), aber seine polemik lehrt seit den Acharnern,
dass das publicum so vollkommen mit den werken der zeitgenössischen
dichter 2) vertraut ist, wie es nur die lectüre ermöglicht.

Es tritt aber auch das drama wirklich als buch auf. vorab hat es
einen titel, den ihm sein verfasser gegeben hat. dazu ist es freilich ge-
kommen, weil die anmeldung bei dem archon, der den chor zu vergeben
hatte, auch wol die ankündigung des chores beim proagon oder auch agon
einen namen forderte. aber erst jetzt gibt es wirklich einen titel. die
epischen gedichte haben ihn erst lange nachdem sie bestanden erhalten,
zum teil so zufällig wie Kupria, Naupaktia (epe), so wenig bezeichnend
wie Ilias (poiesis), so ungeschickt wie Erga kai Emerai. die lyrischen
gedichte haben keinen individualnamen: denn wo ein solcher bei den

2) Aischylos war damals doch schon etwas mehr verblasst. er wird von Aristo-
phanes Vög. 807, Thesm. 134, Lys. 188 mit nennung des namens citirt. auch be-
nutzen die Frösche einen verhältnismässig beschränkten kreis von dramen.

Die tragödie ein buch.
berechnet, und die gelegenheiten zu einer wiederholung waren zuerst
gar nicht vorhanden, später kümmerlich. der umfang der gedichte schloſs
die bewältigung durch das gedächtnis aus, zumal jedes jahr neues gleich-
wertiges brachte. auch ward Athen zwar von tag zu tag mehr die geistige
hauptstadt, aber längst nicht jeder, der an der tragischen poesie anteil
nehmen wollte, konnte die attischen aufführungen besuchen. den Homer
kannte ein um 500 geborner aus der schule, den Theognis und einiges
von Stesichoros auch: von Simonides dies oder jenes kennen zu lernen,
fand sich wol die gelegenheit. es war nicht so viel was die litteratur
der letzten zeiten erzeugt hatte: aber nun, die fülle von tragödien — es
gab kein anderes mittel sie kennen zu lernen als die lectüre: das buch
war für das publicum ein bedürfnis. die dichter aber erhoben den an-
spruch die lehrer des ganzen volkes zu sein, sehr viel bewuſster als Homer,
sehr viel mehr ins weite als Pindar. durch die einmalige aufführung
konnten sie die gewollte wirkung nicht ausüben; es lag also auch für
sie das bedürfnis vor dauernd mit dem publicum zu verkehren, durch
das buch zu wirken. und die centralisirung des geistigen lebens fiel
mit dem wirtschaftlichen aufschwunge Athens zusammen, so daſs die mög-
lichkeit für einen buchhandel gegeben war. all das führte mit notwendig-
keit zur veröffentlichung des dramas durch den dichter für die lectüre.

Von einem buchhandel, dem exporte von büchern, dem vertriebe auf
dem attischen bazar hören wir durch allbekannte schriftstellen seit dem
ende des 5. jahrhunderts. daſs die werke der tragiker in den händen
des publicums vorauszusetzen sind, sagt ausdrücklich Aristophanes auch
erst in den Fröschen (1113), aber seine polemik lehrt seit den Acharnern,
daſs das publicum so vollkommen mit den werken der zeitgenössischen
dichter 2) vertraut ist, wie es nur die lectüre ermöglicht.

Es tritt aber auch das drama wirklich als buch auf. vorab hat es
einen titel, den ihm sein verfasser gegeben hat. dazu ist es freilich ge-
kommen, weil die anmeldung bei dem archon, der den chor zu vergeben
hatte, auch wol die ankündigung des chores beim proagon oder auch agon
einen namen forderte. aber erst jetzt gibt es wirklich einen titel. die
epischen gedichte haben ihn erst lange nachdem sie bestanden erhalten,
zum teil so zufällig wie Κύπρια, Ναυπάκτια (ἔπη), so wenig bezeichnend
wie Ἰλιὰς (ποίησις), so ungeschickt wie Ἔργα καὶ Ἡμέραι. die lyrischen
gedichte haben keinen individualnamen: denn wo ein solcher bei den

2) Aischylos war damals doch schon etwas mehr verblaſst. er wird von Aristo-
phanes Vög. 807, Thesm. 134, Lys. 188 mit nennung des namens citirt. auch be-
nutzen die Frösche einen verhältnismäſsig beschränkten kreis von dramen.
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[123/0143] Die tragödie ein buch. berechnet, und die gelegenheiten zu einer wiederholung waren zuerst gar nicht vorhanden, später kümmerlich. der umfang der gedichte schloſs die bewältigung durch das gedächtnis aus, zumal jedes jahr neues gleich- wertiges brachte. auch ward Athen zwar von tag zu tag mehr die geistige hauptstadt, aber längst nicht jeder, der an der tragischen poesie anteil nehmen wollte, konnte die attischen aufführungen besuchen. den Homer kannte ein um 500 geborner aus der schule, den Theognis und einiges von Stesichoros auch: von Simonides dies oder jenes kennen zu lernen, fand sich wol die gelegenheit. es war nicht so viel was die litteratur der letzten zeiten erzeugt hatte: aber nun, die fülle von tragödien — es gab kein anderes mittel sie kennen zu lernen als die lectüre: das buch war für das publicum ein bedürfnis. die dichter aber erhoben den an- spruch die lehrer des ganzen volkes zu sein, sehr viel bewuſster als Homer, sehr viel mehr ins weite als Pindar. durch die einmalige aufführung konnten sie die gewollte wirkung nicht ausüben; es lag also auch für sie das bedürfnis vor dauernd mit dem publicum zu verkehren, durch das buch zu wirken. und die centralisirung des geistigen lebens fiel mit dem wirtschaftlichen aufschwunge Athens zusammen, so daſs die mög- lichkeit für einen buchhandel gegeben war. all das führte mit notwendig- keit zur veröffentlichung des dramas durch den dichter für die lectüre. Von einem buchhandel, dem exporte von büchern, dem vertriebe auf dem attischen bazar hören wir durch allbekannte schriftstellen seit dem ende des 5. jahrhunderts. daſs die werke der tragiker in den händen des publicums vorauszusetzen sind, sagt ausdrücklich Aristophanes auch erst in den Fröschen (1113), aber seine polemik lehrt seit den Acharnern, daſs das publicum so vollkommen mit den werken der zeitgenössischen dichter 2) vertraut ist, wie es nur die lectüre ermöglicht. Es tritt aber auch das drama wirklich als buch auf. vorab hat es einen titel, den ihm sein verfasser gegeben hat. dazu ist es freilich ge- kommen, weil die anmeldung bei dem archon, der den chor zu vergeben hatte, auch wol die ankündigung des chores beim proagon oder auch agon einen namen forderte. aber erst jetzt gibt es wirklich einen titel. die epischen gedichte haben ihn erst lange nachdem sie bestanden erhalten, zum teil so zufällig wie Κύπρια, Ναυπάκτια (ἔπη), so wenig bezeichnend wie Ἰλιὰς (ποίησις), so ungeschickt wie Ἔργα καὶ Ἡμέραι. die lyrischen gedichte haben keinen individualnamen: denn wo ein solcher bei den 2) Aischylos war damals doch schon etwas mehr verblaſst. er wird von Aristo- phanes Vög. 807, Thesm. 134, Lys. 188 mit nennung des namens citirt. auch be- nutzen die Frösche einen verhältnismäſsig beschränkten kreis von dramen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/143>, abgerufen am 26.04.2024.