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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
die theologen, nur dass diese die mythischen namen Orpheus Epimenides
Musaios vorschoben. die Ionier, welche diesen weg verschmähten, schrieben
in prosa; aber bücher schrieben sie nicht. sie zeichneten ihren logos
auf, legten ihre istorie dar: das waren upomnemata, mochten sie auch
eine so feste form gewonnen haben wie die gesetze des staates. denn
zunächst berechnet waren diese aufzeichnungen, abgesehen von der be-
friedigung des eignen triebes zu schaffen und zu gestalten, auf den kreis
der gnorimoi und etairoi. diesen trugen die schriftsteller teile oder
auch das ganze vor, gaben sie es zu lesen und abzuschreiben. aber was
sie ihnen mitteilten war der logos und die istorie, nicht das buch als
solches. die schrift blieb auch hier nur unterstützung des gedächtnisses:
die verwendung welche solche bücher in Platons Theaetet finden, illus-
trirt das am besten. wenn die schüler dann in die ferne zogen oder den
meister beerbten, so konnten sie die originale schrift im ganzen oder in
teilen erhalten wie sie war, sie konnten sie ebensogut umarbeiten, so dass
es ihr logos ward, und so weiter geben. so wenig wie der begriff des
geistigen eigentums, den die bettelarmut der modernen schriftsteller so
hoch hält, existirte der moderne begriff des buches. die schriftmasse,
die nach Hippokrates, und sogar noch die welche nach Aristoteles heisst,
versteht niemand, ehe er von diesen uns selbstverständlichen begriffen ab-
strahirt hat. die sophistik erzeugt sich dann ihr organ, den epideik-
tischen vortrag, eine neue rhapsodik, und auch dafür gibt es upomnemata
der vortragenden wie der hörer. ein Euthydemos brauchte einen schatz
von sophistischen kunststückchen so gut wie der seher einen schatz von
sprüchen, der parasit einen von anekdoten 1), und der hörer besass gern
schwarz auf weiss, wofür er schweres geld erlegt hatte. auch für diese
sorte von schriftwesen liefert die hippokratische sammlung die besten be-
lege: consistenz und dauerhaftigkeit gewinnt aber selbst die geschriebene
rede erst durch die entstehung des buches, also erst in Athen im gefolge
der tragödie.

In der tragödie entstand mit wunderbarer schnelligkeit eine neue
überaus reiche poesie, die das epos in jeder hinsicht ersetzen konnte. aber
jedes einzelne werk war wie alle chorische poesie nur auf eine vorführung

1) Isokrates aegin. 5. ein seher hinterlässt einem freunde ausser einem legate
tas biblous tas peri mantikes. das wiederholt sich dann bei den wanderpredigern
des christentums, 2 Timoth. 4, 13, Usener Weihnachtsfest 94. der Gelasimus des
plautinischen (menandrischen) Stichus will die bücher seiner kunst verkaufen und
präparirt sich dann daraus. der Saturio des Persa (392) hat einen kasten voll bücher
und will einem mädchen 600 echt attische witze daraus zur aussteuer geben.

Geschichte des tragikertextes.
die theologen, nur daſs diese die mythischen namen Orpheus Epimenides
Musaios vorschoben. die Ionier, welche diesen weg verschmähten, schrieben
in prosa; aber bücher schrieben sie nicht. sie zeichneten ihren λόγος
auf, legten ihre ἱστορίη dar: das waren ὑπομνήματα, mochten sie auch
eine so feste form gewonnen haben wie die gesetze des staates. denn
zunächst berechnet waren diese aufzeichnungen, abgesehen von der be-
friedigung des eignen triebes zu schaffen und zu gestalten, auf den kreis
der γνώριμοι und ἑταῖροι. diesen trugen die schriftsteller teile oder
auch das ganze vor, gaben sie es zu lesen und abzuschreiben. aber was
sie ihnen mitteilten war der λόγος und die ἱστορίη, nicht das buch als
solches. die schrift blieb auch hier nur unterstützung des gedächtnisses:
die verwendung welche solche bücher in Platons Theaetet finden, illus-
trirt das am besten. wenn die schüler dann in die ferne zogen oder den
meister beerbten, so konnten sie die originale schrift im ganzen oder in
teilen erhalten wie sie war, sie konnten sie ebensogut umarbeiten, so daſs
es ihr λόγος ward, und so weiter geben. so wenig wie der begriff des
geistigen eigentums, den die bettelarmut der modernen schriftsteller so
hoch hält, existirte der moderne begriff des buches. die schriftmasse,
die nach Hippokrates, und sogar noch die welche nach Aristoteles heiſst,
versteht niemand, ehe er von diesen uns selbstverständlichen begriffen ab-
strahirt hat. die sophistik erzeugt sich dann ihr organ, den epideik-
tischen vortrag, eine neue rhapsodik, und auch dafür gibt es ὑπομνήματα
der vortragenden wie der hörer. ein Euthydemos brauchte einen schatz
von sophistischen kunststückchen so gut wie der seher einen schatz von
sprüchen, der parasit einen von anekdoten 1), und der hörer besaſs gern
schwarz auf weiſs, wofür er schweres geld erlegt hatte. auch für diese
sorte von schriftwesen liefert die hippokratische sammlung die besten be-
lege: consistenz und dauerhaftigkeit gewinnt aber selbst die geschriebene
rede erst durch die entstehung des buches, also erst in Athen im gefolge
der tragödie.

In der tragödie entstand mit wunderbarer schnelligkeit eine neue
überaus reiche poesie, die das epos in jeder hinsicht ersetzen konnte. aber
jedes einzelne werk war wie alle chorische poesie nur auf eine vorführung

1) Isokrates aegin. 5. ein seher hinterläſst einem freunde auſser einem legate
τὰς βίβλους τὰς περὶ μαντικῆς. das wiederholt sich dann bei den wanderpredigern
des christentums, 2 Timoth. 4, 13, Usener Weihnachtsfest 94. der Gelasimus des
plautinischen (menandrischen) Stichus will die bücher seiner kunst verkaufen und
präparirt sich dann daraus. der Saturio des Persa (392) hat einen kasten voll bücher
und will einem mädchen 600 echt attische witze daraus zur aussteuer geben.
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[122/0142] Geschichte des tragikertextes. die theologen, nur daſs diese die mythischen namen Orpheus Epimenides Musaios vorschoben. die Ionier, welche diesen weg verschmähten, schrieben in prosa; aber bücher schrieben sie nicht. sie zeichneten ihren λόγος auf, legten ihre ἱστορίη dar: das waren ὑπομνήματα, mochten sie auch eine so feste form gewonnen haben wie die gesetze des staates. denn zunächst berechnet waren diese aufzeichnungen, abgesehen von der be- friedigung des eignen triebes zu schaffen und zu gestalten, auf den kreis der γνώριμοι und ἑταῖροι. diesen trugen die schriftsteller teile oder auch das ganze vor, gaben sie es zu lesen und abzuschreiben. aber was sie ihnen mitteilten war der λόγος und die ἱστορίη, nicht das buch als solches. die schrift blieb auch hier nur unterstützung des gedächtnisses: die verwendung welche solche bücher in Platons Theaetet finden, illus- trirt das am besten. wenn die schüler dann in die ferne zogen oder den meister beerbten, so konnten sie die originale schrift im ganzen oder in teilen erhalten wie sie war, sie konnten sie ebensogut umarbeiten, so daſs es ihr λόγος ward, und so weiter geben. so wenig wie der begriff des geistigen eigentums, den die bettelarmut der modernen schriftsteller so hoch hält, existirte der moderne begriff des buches. die schriftmasse, die nach Hippokrates, und sogar noch die welche nach Aristoteles heiſst, versteht niemand, ehe er von diesen uns selbstverständlichen begriffen ab- strahirt hat. die sophistik erzeugt sich dann ihr organ, den epideik- tischen vortrag, eine neue rhapsodik, und auch dafür gibt es ὑπομνήματα der vortragenden wie der hörer. ein Euthydemos brauchte einen schatz von sophistischen kunststückchen so gut wie der seher einen schatz von sprüchen, der parasit einen von anekdoten 1), und der hörer besaſs gern schwarz auf weiſs, wofür er schweres geld erlegt hatte. auch für diese sorte von schriftwesen liefert die hippokratische sammlung die besten be- lege: consistenz und dauerhaftigkeit gewinnt aber selbst die geschriebene rede erst durch die entstehung des buches, also erst in Athen im gefolge der tragödie. In der tragödie entstand mit wunderbarer schnelligkeit eine neue überaus reiche poesie, die das epos in jeder hinsicht ersetzen konnte. aber jedes einzelne werk war wie alle chorische poesie nur auf eine vorführung 1) Isokrates aegin. 5. ein seher hinterläſst einem freunde auſser einem legate τὰς βίβλους τὰς περὶ μαντικῆς. das wiederholt sich dann bei den wanderpredigern des christentums, 2 Timoth. 4, 13, Usener Weihnachtsfest 94. der Gelasimus des plautinischen (menandrischen) Stichus will die bücher seiner kunst verkaufen und präparirt sich dann daraus. der Saturio des Persa (392) hat einen kasten voll bücher und will einem mädchen 600 echt attische witze daraus zur aussteuer geben.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/142>, abgerufen am 26.04.2024.