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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
tun liess, die er nicht verschuldete, und ihn dann strafte für taten, die er
nicht auf dem gewissen hatte. die sprünge mittelst deren man das blinde
schicksal neben der verkettung von schuld und strafe halten zu können
vermeint, brauchen nicht vorgeführt zu werden. es liegt ja auf der hand,
dass beides sich ausschliesst und eines so falsch wie das andere ist, in
wahrheit nichts als eine gedankenlose verallgemeinerung des eindrucks,
den einerseits die Orestie, andererseits der Oedipus macht. auch das
liegt am tage, dass hier ein massstab angelegt ist, den die Hellenen gar
nicht gekannt haben. die antike theorie des dramas hat niemals an
solche dinge gedacht noch denken können, zumal mit Aristoteles ist
es alles ganz unvereinbar, und gar den Athenern des 5. jahrhunderts
den glauben an ein blindes schicksal, den kalten faulen determinismus,
zuzutrauen ist schlimmer als lächerlich. die Athener erzeugten ja damals
die Sokratik. und was würde Sokrates dem prediger des unfreien willens
anders sagen, als 'das ist weibergerede'. Shakespeare nicht anders. 'ist's
mein schicksal, gut, ist's nicht, auch gut' so redet sein frauenschneider
Schwächlich. das problem der willensfreiheit liegt dem 5. jahrhundert
ganz fern, dessen philosophisches interesse vielmehr dem erkenntnis-
theoretischen probleme zugewandt ist. und auch die ethik fragt zunächst
nach der berechtigung der wertschätzung moralischer handlungen. es
wäre schlimm, wenn man an die absurdität dieses modernen geschwätzes
noch mehr worte verlieren sollte: philosophie geschichte poesie sträuben
sich gleichermassen dagegen.

Gewiss, die tragödie ist ein weltbild, und sie schildert die menschen
in ihrem handeln und leiden. also muss sie bewusst oder unbewusst die
ewigen probleme der menschlichen verantwortlichkeit und der göttlichen
gerechtigkeit behandeln. aber da das leben fortwährend sowol für wie
gegen den determinismus, für wie gegen die theodicee zu zeugen scheint,
wird auch sein abbild diese widersprüche zeigen. und da auch die einzelnen
dichter bewusst oder unbewusst zu diesen problemen stellung nehmen
müssen, werden ihre werke so oder so eine antwort geben. anders wird
aus Aischylos der glaube an einen allgütigen weltenherrscher reden als die
protagoreische sophistik aus Euripides. aber das ist die individuelle sache
der dichter. sie lehren ihr volk was sie ihr herz heisst. mit ihrem dichter-
berufe oder gar mit der dichtgattung, deren sie sich bedienen, hat der in-
halt ihrer lehre nicht das mindeste zu tun. wir mögen immerhin urteilen,
dass die höchste und herrlichste tat des dichters erst die sein wird, welche
im menschengeschicke den triumph der idee des guten so zu offenbaren
weiss, wie es Aischylos vermocht hat. wir mögen recht haben, wenn

Was ist eine attische tragödie?
tun lieſs, die er nicht verschuldete, und ihn dann strafte für taten, die er
nicht auf dem gewissen hatte. die sprünge mittelst deren man das blinde
schicksal neben der verkettung von schuld und strafe halten zu können
vermeint, brauchen nicht vorgeführt zu werden. es liegt ja auf der hand,
daſs beides sich ausschlieſst und eines so falsch wie das andere ist, in
wahrheit nichts als eine gedankenlose verallgemeinerung des eindrucks,
den einerseits die Orestie, andererseits der Oedipus macht. auch das
liegt am tage, daſs hier ein maſsstab angelegt ist, den die Hellenen gar
nicht gekannt haben. die antike theorie des dramas hat niemals an
solche dinge gedacht noch denken können, zumal mit Aristoteles ist
es alles ganz unvereinbar, und gar den Athenern des 5. jahrhunderts
den glauben an ein blindes schicksal, den kalten faulen determinismus,
zuzutrauen ist schlimmer als lächerlich. die Athener erzeugten ja damals
die Sokratik. und was würde Sokrates dem prediger des unfreien willens
anders sagen, als ‘das ist weibergerede’. Shakespeare nicht anders. ‘ist’s
mein schicksal, gut, ist’s nicht, auch gut’ so redet sein frauenschneider
Schwächlich. das problem der willensfreiheit liegt dem 5. jahrhundert
ganz fern, dessen philosophisches interesse vielmehr dem erkenntnis-
theoretischen probleme zugewandt ist. und auch die ethik fragt zunächst
nach der berechtigung der wertschätzung moralischer handlungen. es
wäre schlimm, wenn man an die absurdität dieses modernen geschwätzes
noch mehr worte verlieren sollte: philosophie geschichte poesie sträuben
sich gleichermaſsen dagegen.

Gewiſs, die tragödie ist ein weltbild, und sie schildert die menschen
in ihrem handeln und leiden. also muſs sie bewuſst oder unbewuſst die
ewigen probleme der menschlichen verantwortlichkeit und der göttlichen
gerechtigkeit behandeln. aber da das leben fortwährend sowol für wie
gegen den determinismus, für wie gegen die theodicee zu zeugen scheint,
wird auch sein abbild diese widersprüche zeigen. und da auch die einzelnen
dichter bewuſst oder unbewuſst zu diesen problemen stellung nehmen
müssen, werden ihre werke so oder so eine antwort geben. anders wird
aus Aischylos der glaube an einen allgütigen weltenherrscher reden als die
protagoreische sophistik aus Euripides. aber das ist die individuelle sache
der dichter. sie lehren ihr volk was sie ihr herz heiſst. mit ihrem dichter-
berufe oder gar mit der dichtgattung, deren sie sich bedienen, hat der in-
halt ihrer lehre nicht das mindeste zu tun. wir mögen immerhin urteilen,
daſs die höchste und herrlichste tat des dichters erst die sein wird, welche
im menschengeschicke den triumph der idee des guten so zu offenbaren
weiſs, wie es Aischylos vermocht hat. wir mögen recht haben, wenn

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[116/0136] Was ist eine attische tragödie? tun lieſs, die er nicht verschuldete, und ihn dann strafte für taten, die er nicht auf dem gewissen hatte. die sprünge mittelst deren man das blinde schicksal neben der verkettung von schuld und strafe halten zu können vermeint, brauchen nicht vorgeführt zu werden. es liegt ja auf der hand, daſs beides sich ausschlieſst und eines so falsch wie das andere ist, in wahrheit nichts als eine gedankenlose verallgemeinerung des eindrucks, den einerseits die Orestie, andererseits der Oedipus macht. auch das liegt am tage, daſs hier ein maſsstab angelegt ist, den die Hellenen gar nicht gekannt haben. die antike theorie des dramas hat niemals an solche dinge gedacht noch denken können, zumal mit Aristoteles ist es alles ganz unvereinbar, und gar den Athenern des 5. jahrhunderts den glauben an ein blindes schicksal, den kalten faulen determinismus, zuzutrauen ist schlimmer als lächerlich. die Athener erzeugten ja damals die Sokratik. und was würde Sokrates dem prediger des unfreien willens anders sagen, als ‘das ist weibergerede’. Shakespeare nicht anders. ‘ist’s mein schicksal, gut, ist’s nicht, auch gut’ so redet sein frauenschneider Schwächlich. das problem der willensfreiheit liegt dem 5. jahrhundert ganz fern, dessen philosophisches interesse vielmehr dem erkenntnis- theoretischen probleme zugewandt ist. und auch die ethik fragt zunächst nach der berechtigung der wertschätzung moralischer handlungen. es wäre schlimm, wenn man an die absurdität dieses modernen geschwätzes noch mehr worte verlieren sollte: philosophie geschichte poesie sträuben sich gleichermaſsen dagegen. Gewiſs, die tragödie ist ein weltbild, und sie schildert die menschen in ihrem handeln und leiden. also muſs sie bewuſst oder unbewuſst die ewigen probleme der menschlichen verantwortlichkeit und der göttlichen gerechtigkeit behandeln. aber da das leben fortwährend sowol für wie gegen den determinismus, für wie gegen die theodicee zu zeugen scheint, wird auch sein abbild diese widersprüche zeigen. und da auch die einzelnen dichter bewuſst oder unbewuſst zu diesen problemen stellung nehmen müssen, werden ihre werke so oder so eine antwort geben. anders wird aus Aischylos der glaube an einen allgütigen weltenherrscher reden als die protagoreische sophistik aus Euripides. aber das ist die individuelle sache der dichter. sie lehren ihr volk was sie ihr herz heiſst. mit ihrem dichter- berufe oder gar mit der dichtgattung, deren sie sich bedienen, hat der in- halt ihrer lehre nicht das mindeste zu tun. wir mögen immerhin urteilen, daſs die höchste und herrlichste tat des dichters erst die sein wird, welche im menschengeschicke den triumph der idee des guten so zu offenbaren weiſs, wie es Aischylos vermocht hat. wir mögen recht haben, wenn

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/136>, abgerufen am 26.04.2024.