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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
erklärt, welche sonst unbegreiflich aber nichts desto weniger tatsache
bleiben würde, dass nicht nur die tragödie des 5. jahrhunderts, sondern
auch jede nachbildung derselben in der folgezeit die heldensage zum
inhalte hat. auf diesem verhältnis beruht die einzige grösse der griechi-
schen tragödie; aber nicht minder liegt darin auch ihre vergänglichkeit
beschlossen. ihr untergang war unvermeidlich, sobald auch das attische
volk der sage entwuchs. denn dann musste die attische nachfolgerin
Homers das schicksal ereilen, welchem Homer in Ionien verfallen war.
und nun eröffnete dieselbe grossartige politische bewegung, welche dem
drama des Aischylos die weihe gab, Athen völlig dem ionischen einfluss,
oder verlegte vielmehr den schwerpunkt des geistigen lebens von Ionien
nach Athen. dadurch ward der an sich notwendige entwickelungsprocess
beschleunigt, der durch befreiung des subjectiven denkens und der indi-
vidualität die sage und ihr gefäss, die tragödie, überwinden musste. wo
Anaxagoras Protagoras Sokrates lehren, ist in der tat kein raum mehr
für sie. wenn nicht ihre beiden dichter noch gelebt hätten, würde sich
die tragödie kaum bis 406 gehalten haben. als sie aber starben, empfand
das publicum selbst den tod der tragödie. Aristophanes liess Dionysos in
den Hades hinabsteigen. Platon verbrannte seine tetralogie; nicht weil
er darauf verzichtete, ein dichter zu werden im sinne des Aischylos, son-
dern weil er erkannte, dass der tragiker jetzt nicht mehr der lehrer und
meister des volkes sein konnte. er versuchte freilich -- so stark war die
gewalt der tragödie -- sich eine neue kunstform von dramatischem cha-
rakter zu schaffen, und er schuf sich statt der überwundenen heroen-
sage auch einen sagenkreis, den von Sokrates; aber er erlebte doch oder
bewirkte vielmehr selbst dass die wissenschaft das poetische gewand ganz
abwarf; wenigstens die wahre, denn in niederen aber deshalb volkstüm-
licheren kreisen trat dem sokratischen sogar noch der sagenkreis von
Diogenes zur seite. die poetische form des dramas dauerte freilich, ja
das dramatische ward erst jetzt recht als artbildend erfasst; man tat auch
hier den notwendigen schritt, da die heroischen abbilder nicht mehr ver-
fiengen, frisch in das volle menschenleben der gegenwart hineinzugreifen
und von da die stoffe zu holen. Menander steht zum bios wie Aischylos
zu Homer: er bewirtet seine zuschauer mit temakhe von den megala
deipna tou biou. aber das drama ist, seit es die sage verloren hat,
nur noch komödie; das spoudaion ist dahin, unwiederbringlich. die
Hellenen haben nach Platon keinen dichter und keine poesie im hohen
stile mehr besessen: um so ungeheurer war und blieb die gewalt, welche
die fast schon bei lebzeiten an die seite Homers erhobenen drei attischen

Was ist eine attische tragödie?
erklärt, welche sonst unbegreiflich aber nichts desto weniger tatsache
bleiben würde, daſs nicht nur die tragödie des 5. jahrhunderts, sondern
auch jede nachbildung derselben in der folgezeit die heldensage zum
inhalte hat. auf diesem verhältnis beruht die einzige gröſse der griechi-
schen tragödie; aber nicht minder liegt darin auch ihre vergänglichkeit
beschlossen. ihr untergang war unvermeidlich, sobald auch das attische
volk der sage entwuchs. denn dann muſste die attische nachfolgerin
Homers das schicksal ereilen, welchem Homer in Ionien verfallen war.
und nun eröffnete dieselbe groſsartige politische bewegung, welche dem
drama des Aischylos die weihe gab, Athen völlig dem ionischen einfluſs,
oder verlegte vielmehr den schwerpunkt des geistigen lebens von Ionien
nach Athen. dadurch ward der an sich notwendige entwickelungsproceſs
beschleunigt, der durch befreiung des subjectiven denkens und der indi-
vidualität die sage und ihr gefäſs, die tragödie, überwinden muſste. wo
Anaxagoras Protagoras Sokrates lehren, ist in der tat kein raum mehr
für sie. wenn nicht ihre beiden dichter noch gelebt hätten, würde sich
die tragödie kaum bis 406 gehalten haben. als sie aber starben, empfand
das publicum selbst den tod der tragödie. Aristophanes lieſs Dionysos in
den Hades hinabsteigen. Platon verbrannte seine tetralogie; nicht weil
er darauf verzichtete, ein dichter zu werden im sinne des Aischylos, son-
dern weil er erkannte, daſs der tragiker jetzt nicht mehr der lehrer und
meister des volkes sein konnte. er versuchte freilich — so stark war die
gewalt der tragödie — sich eine neue kunstform von dramatischem cha-
rakter zu schaffen, und er schuf sich statt der überwundenen heroen-
sage auch einen sagenkreis, den von Sokrates; aber er erlebte doch oder
bewirkte vielmehr selbst daſs die wissenschaft das poetische gewand ganz
abwarf; wenigstens die wahre, denn in niederen aber deshalb volkstüm-
licheren kreisen trat dem sokratischen sogar noch der sagenkreis von
Diogenes zur seite. die poetische form des dramas dauerte freilich, ja
das dramatische ward erst jetzt recht als artbildend erfaſst; man tat auch
hier den notwendigen schritt, da die heroischen abbilder nicht mehr ver-
fiengen, frisch in das volle menschenleben der gegenwart hineinzugreifen
und von da die stoffe zu holen. Menander steht zum βίος wie Aischylos
zu Homer: er bewirtet seine zuschauer mit τεμάχη von den μεγάλα
δεῖπνα τοῦ βίου. aber das drama ist, seit es die sage verloren hat,
nur noch komödie; das σπουδαῑον ist dahin, unwiederbringlich. die
Hellenen haben nach Platon keinen dichter und keine poesie im hohen
stile mehr besessen: um so ungeheurer war und blieb die gewalt, welche
die fast schon bei lebzeiten an die seite Homers erhobenen drei attischen

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[106/0126] Was ist eine attische tragödie? erklärt, welche sonst unbegreiflich aber nichts desto weniger tatsache bleiben würde, daſs nicht nur die tragödie des 5. jahrhunderts, sondern auch jede nachbildung derselben in der folgezeit die heldensage zum inhalte hat. auf diesem verhältnis beruht die einzige gröſse der griechi- schen tragödie; aber nicht minder liegt darin auch ihre vergänglichkeit beschlossen. ihr untergang war unvermeidlich, sobald auch das attische volk der sage entwuchs. denn dann muſste die attische nachfolgerin Homers das schicksal ereilen, welchem Homer in Ionien verfallen war. und nun eröffnete dieselbe groſsartige politische bewegung, welche dem drama des Aischylos die weihe gab, Athen völlig dem ionischen einfluſs, oder verlegte vielmehr den schwerpunkt des geistigen lebens von Ionien nach Athen. dadurch ward der an sich notwendige entwickelungsproceſs beschleunigt, der durch befreiung des subjectiven denkens und der indi- vidualität die sage und ihr gefäſs, die tragödie, überwinden muſste. wo Anaxagoras Protagoras Sokrates lehren, ist in der tat kein raum mehr für sie. wenn nicht ihre beiden dichter noch gelebt hätten, würde sich die tragödie kaum bis 406 gehalten haben. als sie aber starben, empfand das publicum selbst den tod der tragödie. Aristophanes lieſs Dionysos in den Hades hinabsteigen. Platon verbrannte seine tetralogie; nicht weil er darauf verzichtete, ein dichter zu werden im sinne des Aischylos, son- dern weil er erkannte, daſs der tragiker jetzt nicht mehr der lehrer und meister des volkes sein konnte. er versuchte freilich — so stark war die gewalt der tragödie — sich eine neue kunstform von dramatischem cha- rakter zu schaffen, und er schuf sich statt der überwundenen heroen- sage auch einen sagenkreis, den von Sokrates; aber er erlebte doch oder bewirkte vielmehr selbst daſs die wissenschaft das poetische gewand ganz abwarf; wenigstens die wahre, denn in niederen aber deshalb volkstüm- licheren kreisen trat dem sokratischen sogar noch der sagenkreis von Diogenes zur seite. die poetische form des dramas dauerte freilich, ja das dramatische ward erst jetzt recht als artbildend erfaſst; man tat auch hier den notwendigen schritt, da die heroischen abbilder nicht mehr ver- fiengen, frisch in das volle menschenleben der gegenwart hineinzugreifen und von da die stoffe zu holen. Menander steht zum βίος wie Aischylos zu Homer: er bewirtet seine zuschauer mit τεμάχη von den μεγάλα δεῖπνα τοῦ βίου. aber das drama ist, seit es die sage verloren hat, nur noch komödie; das σπουδαῑον ist dahin, unwiederbringlich. die Hellenen haben nach Platon keinen dichter und keine poesie im hohen stile mehr besessen: um so ungeheurer war und blieb die gewalt, welche die fast schon bei lebzeiten an die seite Homers erhobenen drei attischen

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/126>, abgerufen am 26.04.2024.