Wann Euripides seinen Herakles auf die bühne gebracht hat, in ver-Auffüh- rungszeit. bindung mit welchen anderen stücken, gegen welche concurrenten, mit welchem erfolge, das alles und noch einige tatsächliche angaben über die erste aufführung, die geringere bedeutung für die würdigung des vorliegenden dramas haben, war seiner zeit urkundlich aufgezeichnet worden, und der antike leser fand es seit Aristophanes von Byzanz in seiner Euripidesausgabe vor dem texte des dramas angegeben. auch wir würden diese unschätzbaren notizen überliefert erhalten haben, wenn nicht die stumpfheit von zeiten, die mit solchen tatsachen nichts anzu- fangen wussten, und in diesem falle noch besondere schreiberfaulheit die vorbemerkungen dieser art ihrer wertvollsten bestandteile beraubt hätten 1). der verlust ist unersetzlich; immerhin lässt sich die entstehungszeit der tragödie zwar nicht auf's jahr feststellen, aber doch innerhalb ziemlich enger schranken der möglichkeit.
Zeit der entstehung und zeit der aufführung, das ist zweierlei; aber praktisch wird es nicht nur von den modernen philologen gleichgesetzt, sondern hat niemals unterschieden werden können. auch für Aristo- phanes von Byzanz und schon für Dikaiarchos gab es kein mittel, sich über das werden und wachsen des kunstwerks in der werkstatt des dichters zu unterrichten. sie datirten deshalb nach dem tage der geburt: wir würden am liebsten nach dem tage der conception datiren, aber wir müssen nun einmal darauf verzichten, von den werken der grossen griechischen dichter eine entstehungsgeschichte zu schreiben. ohne zweifel entgeht uns so überaus viel des feinsten und persönlichsten; allein die bedeutung, welche die entstehungsgeschichte für eine anzahl unserer clas- sischen dramen hat, darf auf die attischen tragödien nicht übertragen
1) Vgl. oben 145 und bd. II 4.
6. DER HERAKLES DES EURIPIDES.
Wann Euripides seinen Herakles auf die bühne gebracht hat, in ver-Auffüh- rungszeit. bindung mit welchen anderen stücken, gegen welche concurrenten, mit welchem erfolge, das alles und noch einige tatsächliche angaben über die erste aufführung, die geringere bedeutung für die würdigung des vorliegenden dramas haben, war seiner zeit urkundlich aufgezeichnet worden, und der antike leser fand es seit Aristophanes von Byzanz in seiner Euripidesausgabe vor dem texte des dramas angegeben. auch wir würden diese unschätzbaren notizen überliefert erhalten haben, wenn nicht die stumpfheit von zeiten, die mit solchen tatsachen nichts anzu- fangen wuſsten, und in diesem falle noch besondere schreiberfaulheit die vorbemerkungen dieser art ihrer wertvollsten bestandteile beraubt hätten 1). der verlust ist unersetzlich; immerhin läſst sich die entstehungszeit der tragödie zwar nicht auf’s jahr feststellen, aber doch innerhalb ziemlich enger schranken der möglichkeit.
Zeit der entstehung und zeit der aufführung, das ist zweierlei; aber praktisch wird es nicht nur von den modernen philologen gleichgesetzt, sondern hat niemals unterschieden werden können. auch für Aristo- phanes von Byzanz und schon für Dikaiarchos gab es kein mittel, sich über das werden und wachsen des kunstwerks in der werkstatt des dichters zu unterrichten. sie datirten deshalb nach dem tage der geburt: wir würden am liebsten nach dem tage der conception datiren, aber wir müssen nun einmal darauf verzichten, von den werken der groſsen griechischen dichter eine entstehungsgeschichte zu schreiben. ohne zweifel entgeht uns so überaus viel des feinsten und persönlichsten; allein die bedeutung, welche die entstehungsgeschichte für eine anzahl unserer clas- sischen dramen hat, darf auf die attischen tragödien nicht übertragen
1) Vgl. oben 145 und bd. II 4.
<TEI><text><body><pbfacs="#f0361"n="[341]"/><divn="1"><head><hirendition="#b">6.<lb/>
DER HERAKLES DES EURIPIDES.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Wann Euripides seinen Herakles auf die bühne gebracht hat, in ver-<noteplace="right">Auffüh-<lb/>
rungszeit.</note><lb/>
bindung mit welchen anderen stücken, gegen welche concurrenten, mit<lb/>
welchem erfolge, das alles und noch einige tatsächliche angaben über<lb/>
die erste aufführung, die geringere bedeutung für die würdigung des<lb/>
vorliegenden dramas haben, war seiner zeit urkundlich aufgezeichnet<lb/>
worden, und der antike leser fand es seit Aristophanes von Byzanz in<lb/>
seiner Euripidesausgabe vor dem texte des dramas angegeben. auch<lb/>
wir würden diese unschätzbaren notizen überliefert erhalten haben, wenn<lb/>
nicht die stumpfheit von zeiten, die mit solchen tatsachen nichts anzu-<lb/>
fangen wuſsten, und in diesem falle noch besondere schreiberfaulheit die<lb/>
vorbemerkungen dieser art ihrer wertvollsten bestandteile beraubt hätten <noteplace="foot"n="1)">Vgl. oben 145 und bd. II 4.</note>.<lb/>
der verlust ist unersetzlich; immerhin läſst sich die entstehungszeit der<lb/>
tragödie zwar nicht auf’s jahr feststellen, aber doch innerhalb ziemlich<lb/>
enger schranken der möglichkeit.</p><lb/><p>Zeit der entstehung und zeit der aufführung, das ist zweierlei; aber<lb/>
praktisch wird es nicht nur von den modernen philologen gleichgesetzt,<lb/>
sondern hat niemals unterschieden werden können. auch für Aristo-<lb/>
phanes von Byzanz und schon für Dikaiarchos gab es kein mittel, sich<lb/>
über das werden und wachsen des kunstwerks in der werkstatt des<lb/>
dichters zu unterrichten. sie datirten deshalb nach dem tage der geburt:<lb/>
wir würden am liebsten nach dem tage der conception datiren, aber<lb/>
wir müssen nun einmal darauf verzichten, von den werken der groſsen<lb/>
griechischen dichter eine entstehungsgeschichte zu schreiben. ohne zweifel<lb/>
entgeht uns so überaus viel des feinsten und persönlichsten; allein die<lb/>
bedeutung, welche die entstehungsgeschichte für eine anzahl unserer clas-<lb/>
sischen dramen hat, darf auf die attischen tragödien nicht übertragen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[341]/0361]
6.
DER HERAKLES DES EURIPIDES.
Wann Euripides seinen Herakles auf die bühne gebracht hat, in ver-
bindung mit welchen anderen stücken, gegen welche concurrenten, mit
welchem erfolge, das alles und noch einige tatsächliche angaben über
die erste aufführung, die geringere bedeutung für die würdigung des
vorliegenden dramas haben, war seiner zeit urkundlich aufgezeichnet
worden, und der antike leser fand es seit Aristophanes von Byzanz in
seiner Euripidesausgabe vor dem texte des dramas angegeben. auch
wir würden diese unschätzbaren notizen überliefert erhalten haben, wenn
nicht die stumpfheit von zeiten, die mit solchen tatsachen nichts anzu-
fangen wuſsten, und in diesem falle noch besondere schreiberfaulheit die
vorbemerkungen dieser art ihrer wertvollsten bestandteile beraubt hätten 1).
der verlust ist unersetzlich; immerhin läſst sich die entstehungszeit der
tragödie zwar nicht auf’s jahr feststellen, aber doch innerhalb ziemlich
enger schranken der möglichkeit.
Auffüh-
rungszeit.
Zeit der entstehung und zeit der aufführung, das ist zweierlei; aber
praktisch wird es nicht nur von den modernen philologen gleichgesetzt,
sondern hat niemals unterschieden werden können. auch für Aristo-
phanes von Byzanz und schon für Dikaiarchos gab es kein mittel, sich
über das werden und wachsen des kunstwerks in der werkstatt des
dichters zu unterrichten. sie datirten deshalb nach dem tage der geburt:
wir würden am liebsten nach dem tage der conception datiren, aber
wir müssen nun einmal darauf verzichten, von den werken der groſsen
griechischen dichter eine entstehungsgeschichte zu schreiben. ohne zweifel
entgeht uns so überaus viel des feinsten und persönlichsten; allein die
bedeutung, welche die entstehungsgeschichte für eine anzahl unserer clas-
sischen dramen hat, darf auf die attischen tragödien nicht übertragen
1) Vgl. oben 145 und bd. II 4.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. [341]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/361>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.