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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Solon.
zuerst die bewunderung seiner leistung, zu der die aufzeichnung der
gesetze, der kalender und die ordnung von mass und gewicht auch
gehörte, und die höhere bewunderung seiner selbstlosigkeit und gesetz-
lichkeit haben vorwalten lassen. in der tat hat ihn niemand persönlich
angegriffen. aber wenn der dichter und der patriot geglaubt hatte, er
brauchte nur dem demos in den sattel zu helfen, reiten würde er von
selbst können, so folgte schlimme enttäuschung. dass der bisher herr-
schende stand über die beseitigung der drakontischen verfassung grollte,
mehr noch als über die capitalverluste der einzelnen, ist ebenso natür-
lich, wie dass die theten, denen er zwar die freiheit und damit poli-
tische rechte, aber keinen materiellen gewinn und mit den rechten
pflichten gegeben hatte, nach dem ersten freudenrausche stark ver-
stimmt waren, weil sie arbeiten sollten wie immer. die neue maschine
functionirte mit einer allzustarken reibung und stockte hier und da.
so rief man den werkmeister sie wieder in gang zu bringen. er
vertraute seinem werke und der zeit, idealist wie er war; aber eben
weil er es war, konnte ihm keine herbere kritik werden, als dass von
rechts und links ihm zu verstehen gegeben ward, er hätte die tyrannis
selbst übernehmen sollen, wie es in der tat Pittakos von Mytilene in
ähnlicher stellung getan hatte. das verekelte ihm seine vaterstadt, und
nachdem er mit seiner einzigen waffe, der poesie, sich lebhaft aber ver-
geblich verteidigt hatte, zog er auf lange jahre hinaus in die fremde.
in Athen aber brachen die politischen kämpfe mit erneuter heftigkeit
los. die vorwahlen für die losung zu den höchsten ämtern trugen die
politischen kämpfe auf das land; die präsentation der candidaten für
den neuen rat fielen ohne zweifel den örtlichen kreisen zu. so bil-
deten sich innerhalb des volkes parteien, die sich nach den landesteilen
nannten, nicht etwa alten vortheseischen städten, sondern den wirtschaft-
lichen interessen der gegenwart entsprechend. die solonische demo-
kratie fand anklang in der küstenbevölkerung, die immer demokratischer
gesonnen war, und ihre führung ergriff Megakles, das haupt der Alkme-
oniden, die dem Solon die heimkehr dankten. in der ebene Athens
sassen die ältesten herrengeschlechter und war die vom Areopage be-
schützte landwirtschaft massgebend: sie wollte von der solonischen wirt-
schaftspolitik nichts wissen, die Athen zu Ionien hinwies, und das haupt
der Butaden stritt für die reaction. das bergige land, im nordosten und
osten, sehr stark bevölkert von einem wehrhaften bauernstande und
stolz auf seine eigenart, drängte weiter auf der bahn der decentralisation,
durch die allein das land der stadt gebieten konnte; es stellte den besten

v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 5

Solon.
zuerst die bewunderung seiner leistung, zu der die aufzeichnung der
gesetze, der kalender und die ordnung von maſs und gewicht auch
gehörte, und die höhere bewunderung seiner selbstlosigkeit und gesetz-
lichkeit haben vorwalten lassen. in der tat hat ihn niemand persönlich
angegriffen. aber wenn der dichter und der patriot geglaubt hatte, er
brauchte nur dem demos in den sattel zu helfen, reiten würde er von
selbst können, so folgte schlimme enttäuschung. daſs der bisher herr-
schende stand über die beseitigung der drakontischen verfassung grollte,
mehr noch als über die capitalverluste der einzelnen, ist ebenso natür-
lich, wie daſs die theten, denen er zwar die freiheit und damit poli-
tische rechte, aber keinen materiellen gewinn und mit den rechten
pflichten gegeben hatte, nach dem ersten freudenrausche stark ver-
stimmt waren, weil sie arbeiten sollten wie immer. die neue maschine
functionirte mit einer allzustarken reibung und stockte hier und da.
so rief man den werkmeister sie wieder in gang zu bringen. er
vertraute seinem werke und der zeit, idealist wie er war; aber eben
weil er es war, konnte ihm keine herbere kritik werden, als daſs von
rechts und links ihm zu verstehen gegeben ward, er hätte die tyrannis
selbst übernehmen sollen, wie es in der tat Pittakos von Mytilene in
ähnlicher stellung getan hatte. das verekelte ihm seine vaterstadt, und
nachdem er mit seiner einzigen waffe, der poesie, sich lebhaft aber ver-
geblich verteidigt hatte, zog er auf lange jahre hinaus in die fremde.
in Athen aber brachen die politischen kämpfe mit erneuter heftigkeit
los. die vorwahlen für die losung zu den höchsten ämtern trugen die
politischen kämpfe auf das land; die präsentation der candidaten für
den neuen rat fielen ohne zweifel den örtlichen kreisen zu. so bil-
deten sich innerhalb des volkes parteien, die sich nach den landesteilen
nannten, nicht etwa alten vortheseischen städten, sondern den wirtschaft-
lichen interessen der gegenwart entsprechend. die solonische demo-
kratie fand anklang in der küstenbevölkerung, die immer demokratischer
gesonnen war, und ihre führung ergriff Megakles, das haupt der Alkme-
oniden, die dem Solon die heimkehr dankten. in der ebene Athens
saſsen die ältesten herrengeschlechter und war die vom Areopage be-
schützte landwirtschaft maſsgebend: sie wollte von der solonischen wirt-
schaftspolitik nichts wissen, die Athen zu Ionien hinwies, und das haupt
der Butaden stritt für die reaction. das bergige land, im nordosten und
osten, sehr stark bevölkert von einem wehrhaften bauernstande und
stolz auf seine eigenart, drängte weiter auf der bahn der decentralisation,
durch die allein das land der stadt gebieten konnte; es stellte den besten

v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 5
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[65/0075] Solon. zuerst die bewunderung seiner leistung, zu der die aufzeichnung der gesetze, der kalender und die ordnung von maſs und gewicht auch gehörte, und die höhere bewunderung seiner selbstlosigkeit und gesetz- lichkeit haben vorwalten lassen. in der tat hat ihn niemand persönlich angegriffen. aber wenn der dichter und der patriot geglaubt hatte, er brauchte nur dem demos in den sattel zu helfen, reiten würde er von selbst können, so folgte schlimme enttäuschung. daſs der bisher herr- schende stand über die beseitigung der drakontischen verfassung grollte, mehr noch als über die capitalverluste der einzelnen, ist ebenso natür- lich, wie daſs die theten, denen er zwar die freiheit und damit poli- tische rechte, aber keinen materiellen gewinn und mit den rechten pflichten gegeben hatte, nach dem ersten freudenrausche stark ver- stimmt waren, weil sie arbeiten sollten wie immer. die neue maschine functionirte mit einer allzustarken reibung und stockte hier und da. so rief man den werkmeister sie wieder in gang zu bringen. er vertraute seinem werke und der zeit, idealist wie er war; aber eben weil er es war, konnte ihm keine herbere kritik werden, als daſs von rechts und links ihm zu verstehen gegeben ward, er hätte die tyrannis selbst übernehmen sollen, wie es in der tat Pittakos von Mytilene in ähnlicher stellung getan hatte. das verekelte ihm seine vaterstadt, und nachdem er mit seiner einzigen waffe, der poesie, sich lebhaft aber ver- geblich verteidigt hatte, zog er auf lange jahre hinaus in die fremde. in Athen aber brachen die politischen kämpfe mit erneuter heftigkeit los. die vorwahlen für die losung zu den höchsten ämtern trugen die politischen kämpfe auf das land; die präsentation der candidaten für den neuen rat fielen ohne zweifel den örtlichen kreisen zu. so bil- deten sich innerhalb des volkes parteien, die sich nach den landesteilen nannten, nicht etwa alten vortheseischen städten, sondern den wirtschaft- lichen interessen der gegenwart entsprechend. die solonische demo- kratie fand anklang in der küstenbevölkerung, die immer demokratischer gesonnen war, und ihre führung ergriff Megakles, das haupt der Alkme- oniden, die dem Solon die heimkehr dankten. in der ebene Athens saſsen die ältesten herrengeschlechter und war die vom Areopage be- schützte landwirtschaft maſsgebend: sie wollte von der solonischen wirt- schaftspolitik nichts wissen, die Athen zu Ionien hinwies, und das haupt der Butaden stritt für die reaction. das bergige land, im nordosten und osten, sehr stark bevölkert von einem wehrhaften bauernstande und stolz auf seine eigenart, drängte weiter auf der bahn der decentralisation, durch die allein das land der stadt gebieten konnte; es stellte den besten v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 5

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/75>, abgerufen am 27.04.2024.