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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 11. Timemata parekhomenoi.
darin, dass es ein vorstoss der radikalen demokratie ist, der das versöhnungs-
werk durchaus nicht recht war; diesmal galt es die clausel des versöhnungs-
instrumentes unwirksam zu machen, die den Dreissig und ihren haupt-
helfern die möglichkeit der amnestie eröffnete. Eratosthenes scheint
nicht der einzige gewesen zu sein, der sich der rechenschaft stellen
wollte; ob es auch andere getan haben und mit welchem erfolge etwa,
ist unbekannt. dem sollte seine hinrichtung einen riegel vorschieben.
und der demokratische terrorismus regt sich schon recht stark; nicht
nur die verteidiger des Eratosthenes werden eingeschüchtert (86), sondern
auch die zeugen, deren viele gekommen waren, und die sich durch die
verteidigung der Dreissig compromittiren sollen (88--89), und endlich
die richter, denen sogar gedroht wird, sie sollten sich nicht auf die ge-
heime abstimmung verlassen (91), sie sollen vielmehr beweisen, dass
sie orgizontai tois pepragmenois (90). eleos und suggnome soll aus
der seele der richter verbannt sein (79): so fasst der radikale die ver-
söhnung auf. er gesteht hier ein, dass die öffentliche meinung in Erato-
sthenes den harmlosesten der Dreissig sehe (89), und vorher, dass dieser
als freund und anhänger des Theramenes auf sympathien zu rechnen
hatte. das dient dem redner aber nur zu dem vom wildesten hasse ein-
gegebenen und gröbste lüge nicht scheuenden6) angriffe auf den toten,
von eben den Dreissig getöteten Theramenes (62--79). erst hier offen-
bart sich, wohin das ganze zielt. der tod hatte dem Theramenes in sehr
weiten kreisen jene sympathie geweckt, die selbst Xenophon, den ver-
ehrer Thrasybuls, zu einer wirklich packenden erzählung begeistert hat.
die Dreissig selbst hatten erst verspielt, als die kreise sich von ihnen
abwandten, die mit Theramenes eine ganz entschiedene antipathie gegen
die radicale demokratie hatten. und andererseits hatten die leute aus
dem Peiraieus erst gewonnen, als eben diese kreise mit ihnen giengen.
Rhinon war gewiss kein demokrat, und mit der gesellschaft die Lysias
vertritt würde Sparta niemals transigirt haben. die anhänger der patrios
politeia waren von beiden seiten angefeindet, aber sie haben in wahr-
heit Athen gerettet: die radicalen fürchteten sie ungleich mehr als die
extremen oligarchen. daher geht der hauptstoss des Lysias gegen den
toten Theramenes. die radicale demokratie macht die kraftprobe, hier

6) Es genügt dafür zu constatiren, dass Theramenes den antrag gestellt haben
soll, die Dreissig einzusetzen und die verfassung des Drakontides anzunehmen (73),
während Theramenes wider die einsetzung der Dreissig, in deren beantragung die
angebliche verfassung des Drakontides bestand, gesprochen hat.

II. 11. Τιμήματα παϱεχόμενοι.
darin, daſs es ein vorstoſs der radikalen demokratie ist, der das versöhnungs-
werk durchaus nicht recht war; diesmal galt es die clausel des versöhnungs-
instrumentes unwirksam zu machen, die den Dreiſsig und ihren haupt-
helfern die möglichkeit der amnestie eröffnete. Eratosthenes scheint
nicht der einzige gewesen zu sein, der sich der rechenschaft stellen
wollte; ob es auch andere getan haben und mit welchem erfolge etwa,
ist unbekannt. dem sollte seine hinrichtung einen riegel vorschieben.
und der demokratische terrorismus regt sich schon recht stark; nicht
nur die verteidiger des Eratosthenes werden eingeschüchtert (86), sondern
auch die zeugen, deren viele gekommen waren, und die sich durch die
verteidigung der Dreiſsig compromittiren sollen (88—89), und endlich
die richter, denen sogar gedroht wird, sie sollten sich nicht auf die ge-
heime abstimmung verlassen (91), sie sollen vielmehr beweisen, daſs
sie ὀϱγίζονται τοῖς πεπϱαγμένοις (90). ἔλεος und συγγνώμη soll aus
der seele der richter verbannt sein (79): so faſst der radikale die ver-
söhnung auf. er gesteht hier ein, daſs die öffentliche meinung in Erato-
sthenes den harmlosesten der Dreiſsig sehe (89), und vorher, daſs dieser
als freund und anhänger des Theramenes auf sympathien zu rechnen
hatte. das dient dem redner aber nur zu dem vom wildesten hasse ein-
gegebenen und gröbste lüge nicht scheuenden6) angriffe auf den toten,
von eben den Dreiſsig getöteten Theramenes (62—79). erst hier offen-
bart sich, wohin das ganze zielt. der tod hatte dem Theramenes in sehr
weiten kreisen jene sympathie geweckt, die selbst Xenophon, den ver-
ehrer Thrasybuls, zu einer wirklich packenden erzählung begeistert hat.
die Dreiſsig selbst hatten erst verspielt, als die kreise sich von ihnen
abwandten, die mit Theramenes eine ganz entschiedene antipathie gegen
die radicale demokratie hatten. und andererseits hatten die leute aus
dem Peiraieus erst gewonnen, als eben diese kreise mit ihnen giengen.
Rhinon war gewiſs kein demokrat, und mit der gesellschaft die Lysias
vertritt würde Sparta niemals transigirt haben. die anhänger der πάτϱιος
πολιτεία waren von beiden seiten angefeindet, aber sie haben in wahr-
heit Athen gerettet: die radicalen fürchteten sie ungleich mehr als die
extremen oligarchen. daher geht der hauptstoſs des Lysias gegen den
toten Theramenes. die radicale demokratie macht die kraftprobe, hier

6) Es genügt dafür zu constatiren, daſs Theramenes den antrag gestellt haben
soll, die Dreiſsig einzusetzen und die verfassung des Drakontides anzunehmen (73),
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[222/0232] II. 11. Τιμήματα παϱεχόμενοι. darin, daſs es ein vorstoſs der radikalen demokratie ist, der das versöhnungs- werk durchaus nicht recht war; diesmal galt es die clausel des versöhnungs- instrumentes unwirksam zu machen, die den Dreiſsig und ihren haupt- helfern die möglichkeit der amnestie eröffnete. Eratosthenes scheint nicht der einzige gewesen zu sein, der sich der rechenschaft stellen wollte; ob es auch andere getan haben und mit welchem erfolge etwa, ist unbekannt. dem sollte seine hinrichtung einen riegel vorschieben. und der demokratische terrorismus regt sich schon recht stark; nicht nur die verteidiger des Eratosthenes werden eingeschüchtert (86), sondern auch die zeugen, deren viele gekommen waren, und die sich durch die verteidigung der Dreiſsig compromittiren sollen (88—89), und endlich die richter, denen sogar gedroht wird, sie sollten sich nicht auf die ge- heime abstimmung verlassen (91), sie sollen vielmehr beweisen, daſs sie ὀϱγίζονται τοῖς πεπϱαγμένοις (90). ἔλεος und συγγνώμη soll aus der seele der richter verbannt sein (79): so faſst der radikale die ver- söhnung auf. er gesteht hier ein, daſs die öffentliche meinung in Erato- sthenes den harmlosesten der Dreiſsig sehe (89), und vorher, daſs dieser als freund und anhänger des Theramenes auf sympathien zu rechnen hatte. das dient dem redner aber nur zu dem vom wildesten hasse ein- gegebenen und gröbste lüge nicht scheuenden 6) angriffe auf den toten, von eben den Dreiſsig getöteten Theramenes (62—79). erst hier offen- bart sich, wohin das ganze zielt. der tod hatte dem Theramenes in sehr weiten kreisen jene sympathie geweckt, die selbst Xenophon, den ver- ehrer Thrasybuls, zu einer wirklich packenden erzählung begeistert hat. die Dreiſsig selbst hatten erst verspielt, als die kreise sich von ihnen abwandten, die mit Theramenes eine ganz entschiedene antipathie gegen die radicale demokratie hatten. und andererseits hatten die leute aus dem Peiraieus erst gewonnen, als eben diese kreise mit ihnen giengen. Rhinon war gewiſs kein demokrat, und mit der gesellschaft die Lysias vertritt würde Sparta niemals transigirt haben. die anhänger der πάτϱιος πολιτεία waren von beiden seiten angefeindet, aber sie haben in wahr- heit Athen gerettet: die radicalen fürchteten sie ungleich mehr als die extremen oligarchen. daher geht der hauptstoſs des Lysias gegen den toten Theramenes. die radicale demokratie macht die kraftprobe, hier 6) Es genügt dafür zu constatiren, daſs Theramenes den antrag gestellt haben soll, die Dreiſsig einzusetzen und die verfassung des Drakontides anzunehmen (73), während Theramenes wider die einsetzung der Dreiſsig, in deren beantragung die angebliche verfassung des Drakontides bestand, gesprochen hat.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/232>, abgerufen am 26.04.2024.