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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 6. Trittyen und demen.
damals noch später rücksicht genommen. 46) das verzeichnis der demen,
wol aus dem jahre 200, das wir besitzen (II 991), kennt die trittyen
gar nicht mehr.

Bedeutung
der kreis-
ordnung.
Mögen sie denn auch verfallen sein, so gehören sie zu den ein-
richtungen, die in der grossen zeit Athens lebendig waren, und selbst
wenn wir zugeben müssten, dass die organisation sich praktisch nicht
bewährt hätte, so würde sie an interesse nicht verlieren. der grosse
staatsmann hätte höchstens zu grosses für seine zeit geplant. denn mit
nichten ist der erfolg allein der gradmesser für die bedeutung eines
staatsmännischen gedankens. die einzelgemeinde als selbstverwaltungs-
körper ist das eine und grösste was Kleisthenes geschaffen hat. sie
hat sich lebenskräftig bewiesen, obwol wir zugestehn müssen, dass in
den kleinsten demen die verwaltung willkürlich und corrupt ward,
wie in Halimus, in dem grossen Peiraieus aber sogar der staat soweit
gegangen ist, die ernennung des bürgermeisters für sich in an-
spruch zu nehmen. der staat hat auch das repraesentative princip be-
schnitten, das eingeführt zu haben das zweite überraschend grosse ver-
dienst des Kleisthenes ist. Aristoteles findet das in der ordnung, weil
oi demoi epoloun, wie er es derb ausdrückt, und die begründung
ist triftig. aber musste es dazu kommen? zwei momente, die dazu
drängten, konnten wir schon immer schätzen, einmal die demokratische
centralisation, die übergriffe des plenums der volksversammlung, sodann
die künstlichen gebilde der zehn phylen, die den formen des geschlechter-
staates nachgebildet waren und niemals zu leistungsfähigen verwaltungs-
körpern, zu provinzen, werden konnten. nun aber lernen wir das neue,
dass Kleisthenes in den kreisen ein an sich sehr wohl lebensfähiges
mittelglied zwischen der einzelgemeinde und der sammtgemeinde ge-
schaffen hat: der kreis konnte sehr gut seine vertretung und seinen
beamten haben, also die misstände der verwaltung in den einzelgemeinden
durch seine kontrolle beseitigen, denn er besass dafür die vorbedingung
der lokalen geschlossenheit. ja man träumt gern weiter; wenn der kreis
mit staatlich eingesetzten trittyarchen an der spitze und einem aus den
vertretern seiner gemeinden gebildeten rate daneben das ausgebildet
hätte, wozu der keim in ihm lag, so hätte er sehr wol dasselbe leisten
können wie ein römisches municipium, ohne doch eine eigene polis

46) Ich unterdrücke einen genaueren nachweis, weil er von Kirchner Rh. M.
47, 550 vollständiger geliefert ist. dieser hat freilich auf die kreisteilung selbst gar
nicht geachtet, aber das kann der leser durch vergleichung der obigen ausführung
mit Kirchners demenverzeichnis leicht sich selbst ergänzen.

II. 6. Trittyen und demen.
damals noch später rücksicht genommen. 46) das verzeichnis der demen,
wol aus dem jahre 200, das wir besitzen (II 991), kennt die trittyen
gar nicht mehr.

Bedeutung
der kreis-
ordnung.
Mögen sie denn auch verfallen sein, so gehören sie zu den ein-
richtungen, die in der groſsen zeit Athens lebendig waren, und selbst
wenn wir zugeben müſsten, daſs die organisation sich praktisch nicht
bewährt hätte, so würde sie an interesse nicht verlieren. der groſse
staatsmann hätte höchstens zu groſses für seine zeit geplant. denn mit
nichten ist der erfolg allein der gradmesser für die bedeutung eines
staatsmännischen gedankens. die einzelgemeinde als selbstverwaltungs-
körper ist das eine und gröſste was Kleisthenes geschaffen hat. sie
hat sich lebenskräftig bewiesen, obwol wir zugestehn müssen, daſs in
den kleinsten demen die verwaltung willkürlich und corrupt ward,
wie in Halimus, in dem groſsen Peiraieus aber sogar der staat soweit
gegangen ist, die ernennung des bürgermeisters für sich in an-
spruch zu nehmen. der staat hat auch das repraesentative princip be-
schnitten, das eingeführt zu haben das zweite überraschend groſse ver-
dienst des Kleisthenes ist. Aristoteles findet das in der ordnung, weil
οἱ δῆμοι ἐπώλουν, wie er es derb ausdrückt, und die begründung
ist triftig. aber muſste es dazu kommen? zwei momente, die dazu
drängten, konnten wir schon immer schätzen, einmal die demokratische
centralisation, die übergriffe des plenums der volksversammlung, sodann
die künstlichen gebilde der zehn phylen, die den formen des geschlechter-
staates nachgebildet waren und niemals zu leistungsfähigen verwaltungs-
körpern, zu provinzen, werden konnten. nun aber lernen wir das neue,
daſs Kleisthenes in den kreisen ein an sich sehr wohl lebensfähiges
mittelglied zwischen der einzelgemeinde und der sammtgemeinde ge-
schaffen hat: der kreis konnte sehr gut seine vertretung und seinen
beamten haben, also die misstände der verwaltung in den einzelgemeinden
durch seine kontrolle beseitigen, denn er besass dafür die vorbedingung
der lokalen geschlossenheit. ja man träumt gern weiter; wenn der kreis
mit staatlich eingesetzten trittyarchen an der spitze und einem aus den
vertretern seiner gemeinden gebildeten rate daneben das ausgebildet
hätte, wozu der keim in ihm lag, so hätte er sehr wol dasselbe leisten
können wie ein römisches municipium, ohne doch eine eigene πόλις

46) Ich unterdrücke einen genaueren nachweis, weil er von Kirchner Rh. M.
47, 550 vollständiger geliefert ist. dieser hat freilich auf die kreisteilung selbst gar
nicht geachtet, aber das kann der leser durch vergleichung der obigen ausführung
mit Kirchners demenverzeichnis leicht sich selbst ergänzen.
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[162/0172] II. 6. Trittyen und demen. damals noch später rücksicht genommen. 46) das verzeichnis der demen, wol aus dem jahre 200, das wir besitzen (II 991), kennt die trittyen gar nicht mehr. Mögen sie denn auch verfallen sein, so gehören sie zu den ein- richtungen, die in der groſsen zeit Athens lebendig waren, und selbst wenn wir zugeben müſsten, daſs die organisation sich praktisch nicht bewährt hätte, so würde sie an interesse nicht verlieren. der groſse staatsmann hätte höchstens zu groſses für seine zeit geplant. denn mit nichten ist der erfolg allein der gradmesser für die bedeutung eines staatsmännischen gedankens. die einzelgemeinde als selbstverwaltungs- körper ist das eine und gröſste was Kleisthenes geschaffen hat. sie hat sich lebenskräftig bewiesen, obwol wir zugestehn müssen, daſs in den kleinsten demen die verwaltung willkürlich und corrupt ward, wie in Halimus, in dem groſsen Peiraieus aber sogar der staat soweit gegangen ist, die ernennung des bürgermeisters für sich in an- spruch zu nehmen. der staat hat auch das repraesentative princip be- schnitten, das eingeführt zu haben das zweite überraschend groſse ver- dienst des Kleisthenes ist. Aristoteles findet das in der ordnung, weil οἱ δῆμοι ἐπώλουν, wie er es derb ausdrückt, und die begründung ist triftig. aber muſste es dazu kommen? zwei momente, die dazu drängten, konnten wir schon immer schätzen, einmal die demokratische centralisation, die übergriffe des plenums der volksversammlung, sodann die künstlichen gebilde der zehn phylen, die den formen des geschlechter- staates nachgebildet waren und niemals zu leistungsfähigen verwaltungs- körpern, zu provinzen, werden konnten. nun aber lernen wir das neue, daſs Kleisthenes in den kreisen ein an sich sehr wohl lebensfähiges mittelglied zwischen der einzelgemeinde und der sammtgemeinde ge- schaffen hat: der kreis konnte sehr gut seine vertretung und seinen beamten haben, also die misstände der verwaltung in den einzelgemeinden durch seine kontrolle beseitigen, denn er besass dafür die vorbedingung der lokalen geschlossenheit. ja man träumt gern weiter; wenn der kreis mit staatlich eingesetzten trittyarchen an der spitze und einem aus den vertretern seiner gemeinden gebildeten rate daneben das ausgebildet hätte, wozu der keim in ihm lag, so hätte er sehr wol dasselbe leisten können wie ein römisches municipium, ohne doch eine eigene πόλις Bedeutung der kreis- ordnung. 46) Ich unterdrücke einen genaueren nachweis, weil er von Kirchner Rh. M. 47, 550 vollständiger geliefert ist. dieser hat freilich auf die kreisteilung selbst gar nicht geachtet, aber das kann der leser durch vergleichung der obigen ausführung mit Kirchners demenverzeichnis leicht sich selbst ergänzen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/172>, abgerufen am 26.04.2024.