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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die Medontiden.
es ist dann nur der irrtum der chronographen anzuerkennen, die in ihr
könige und Medontiden suchen.

Aber auch dieser gangbare weg führt in die irre. es ist nicht wol
zu verlangen, dass man den Akastos, auf den sich ein alter eid um 600
bezieht, für einen könig aus dem zweiten jahrtausend halte. der Akastos
des eides war sei es könig, sei es archon, als die herrschaft der archonten
eingesetzt ward. eine solche verfassung in vorhomerischer zeit ist nicht
glaublich, und die dauer einer verfassung durch vier jahrhunderte noch
weniger. dagegen stellten die herren, welche im archon den höchsten be-
amten hatten, ihre verfassung naturgemäss als eine uralte hin, rückten also
den könig, unter dem sie eingeführt war, an den anfang der reihe. das ist
dieselbe manipulation, wie wenn die demokratie den Theseus als stifter
verehrt und zuerst den ostrakismos leiden lässt. dann ist die liste zwar
nicht authentisch, aber sie ist älter als die demokratie des Kleisthenes,
ein erzeugnis des sechsten jahrhunderts. dieses hatte das gute recht, die
vorzeit in seinem sinne umzuformen, und ganz von selbst suchte es in
ihr archonten, denn die waren jetzt in Athen die entscheidenden be-
amten; auf die könige kam wenig mehr an. damals verfügte man ohne
zweifel noch über viele überlieferung, die später mit dem sturze der
geschlechterherrschaft verschollen ist, und von der die liste in ihren
namen einen niederschlag enthält. 16) sie ist nicht gedankenlos zusam-
mengestoppelt oder frischweg erlogen; aber sie ist zurecht gemacht, ist
keine königsliste und ist authentisch erst etwa seit 800. wir aber sind
nur ganz ausnahmsweise im stande, eine einzelheit in ihr mit sicherheit
zu glauben oder zu verwerfen. die liste ist eben ein stück Atthis des
sechsten jahrhunderts. die kritik des fünften und vierten, die nament-
lich mit recht das königliche geschlecht suchte, hat sie umgedeutet und
hie und da zurechtgestutzt; die namen selber aber, das hauptgerüst, hat
sie stehn lassen müssen. 17) wenn man sie so beurteilt, so kennen wir
gar keine Medontidenkönige; das stemma bei Pausanias ist ein auto-
schediasma, aber Hippomenes kann ganz wol zehnjähriger archon ge-
wesen sein. übrigens verhehle ich mir nicht, dass das urteil schwanken
kann, und dass jedes glied, je nach dem es beurteilt wird, die ganze

16) Rätselhaft sind besonders die namen Thespieus und Apsandros. diesen
wage ich nicht zu deuten; ein ethnikon als eigenname in so alter zeit ist erst recht
anstössig.
17) Der athenische könig Epainetos in der sechsunddreissigsten olympiade aus
Hippon von Rhegion (Antig. Kar. parad. 121) ist gänzlich unverständlich und kann
sicherlich nicht zugleich könig und Athener sein.

Die Medontiden.
es ist dann nur der irrtum der chronographen anzuerkennen, die in ihr
könige und Medontiden suchen.

Aber auch dieser gangbare weg führt in die irre. es ist nicht wol
zu verlangen, daſs man den Akastos, auf den sich ein alter eid um 600
bezieht, für einen könig aus dem zweiten jahrtausend halte. der Akastos
des eides war sei es könig, sei es archon, als die herrschaft der archonten
eingesetzt ward. eine solche verfassung in vorhomerischer zeit ist nicht
glaublich, und die dauer einer verfassung durch vier jahrhunderte noch
weniger. dagegen stellten die herren, welche im archon den höchsten be-
amten hatten, ihre verfassung naturgemäſs als eine uralte hin, rückten also
den könig, unter dem sie eingeführt war, an den anfang der reihe. das ist
dieselbe manipulation, wie wenn die demokratie den Theseus als stifter
verehrt und zuerst den ostrakismos leiden läſst. dann ist die liste zwar
nicht authentisch, aber sie ist älter als die demokratie des Kleisthenes,
ein erzeugnis des sechsten jahrhunderts. dieses hatte das gute recht, die
vorzeit in seinem sinne umzuformen, und ganz von selbst suchte es in
ihr archonten, denn die waren jetzt in Athen die entscheidenden be-
amten; auf die könige kam wenig mehr an. damals verfügte man ohne
zweifel noch über viele überlieferung, die später mit dem sturze der
geschlechterherrschaft verschollen ist, und von der die liste in ihren
namen einen niederschlag enthält. 16) sie ist nicht gedankenlos zusam-
mengestoppelt oder frischweg erlogen; aber sie ist zurecht gemacht, ist
keine königsliste und ist authentisch erst etwa seit 800. wir aber sind
nur ganz ausnahmsweise im stande, eine einzelheit in ihr mit sicherheit
zu glauben oder zu verwerfen. die liste ist eben ein stück Atthis des
sechsten jahrhunderts. die kritik des fünften und vierten, die nament-
lich mit recht das königliche geschlecht suchte, hat sie umgedeutet und
hie und da zurechtgestutzt; die namen selber aber, das hauptgerüst, hat
sie stehn lassen müssen. 17) wenn man sie so beurteilt, so kennen wir
gar keine Medontidenkönige; das stemma bei Pausanias ist ein auto-
schediasma, aber Hippomenes kann ganz wol zehnjähriger archon ge-
wesen sein. übrigens verhehle ich mir nicht, daſs das urteil schwanken
kann, und daſs jedes glied, je nach dem es beurteilt wird, die ganze

16) Rätselhaft sind besonders die namen Θεσπιεύς und Ἄψανδϱος. diesen
wage ich nicht zu deuten; ein ethnikon als eigenname in so alter zeit ist erst recht
anstöſsig.
17) Der athenische könig Epainetos in der sechsunddreiſsigsten olympiade aus
Hippon von Rhegion (Antig. Kar. parad. 121) ist gänzlich unverständlich und kann
sicherlich nicht zugleich könig und Athener sein.
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[135/0145] Die Medontiden. es ist dann nur der irrtum der chronographen anzuerkennen, die in ihr könige und Medontiden suchen. Aber auch dieser gangbare weg führt in die irre. es ist nicht wol zu verlangen, daſs man den Akastos, auf den sich ein alter eid um 600 bezieht, für einen könig aus dem zweiten jahrtausend halte. der Akastos des eides war sei es könig, sei es archon, als die herrschaft der archonten eingesetzt ward. eine solche verfassung in vorhomerischer zeit ist nicht glaublich, und die dauer einer verfassung durch vier jahrhunderte noch weniger. dagegen stellten die herren, welche im archon den höchsten be- amten hatten, ihre verfassung naturgemäſs als eine uralte hin, rückten also den könig, unter dem sie eingeführt war, an den anfang der reihe. das ist dieselbe manipulation, wie wenn die demokratie den Theseus als stifter verehrt und zuerst den ostrakismos leiden läſst. dann ist die liste zwar nicht authentisch, aber sie ist älter als die demokratie des Kleisthenes, ein erzeugnis des sechsten jahrhunderts. dieses hatte das gute recht, die vorzeit in seinem sinne umzuformen, und ganz von selbst suchte es in ihr archonten, denn die waren jetzt in Athen die entscheidenden be- amten; auf die könige kam wenig mehr an. damals verfügte man ohne zweifel noch über viele überlieferung, die später mit dem sturze der geschlechterherrschaft verschollen ist, und von der die liste in ihren namen einen niederschlag enthält. 16) sie ist nicht gedankenlos zusam- mengestoppelt oder frischweg erlogen; aber sie ist zurecht gemacht, ist keine königsliste und ist authentisch erst etwa seit 800. wir aber sind nur ganz ausnahmsweise im stande, eine einzelheit in ihr mit sicherheit zu glauben oder zu verwerfen. die liste ist eben ein stück Atthis des sechsten jahrhunderts. die kritik des fünften und vierten, die nament- lich mit recht das königliche geschlecht suchte, hat sie umgedeutet und hie und da zurechtgestutzt; die namen selber aber, das hauptgerüst, hat sie stehn lassen müssen. 17) wenn man sie so beurteilt, so kennen wir gar keine Medontidenkönige; das stemma bei Pausanias ist ein auto- schediasma, aber Hippomenes kann ganz wol zehnjähriger archon ge- wesen sein. übrigens verhehle ich mir nicht, daſs das urteil schwanken kann, und daſs jedes glied, je nach dem es beurteilt wird, die ganze 16) Rätselhaft sind besonders die namen Θεσπιεύς und Ἄψανδϱος. diesen wage ich nicht zu deuten; ein ethnikon als eigenname in so alter zeit ist erst recht anstöſsig. 17) Der athenische könig Epainetos in der sechsunddreiſsigsten olympiade aus Hippon von Rhegion (Antig. Kar. parad. 121) ist gänzlich unverständlich und kann sicherlich nicht zugleich könig und Athener sein.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/145>, abgerufen am 27.04.2024.