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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 4. Patrios politeia.
den anschluss des heeres sich ergeben musste, unterschieden wird, und
es kann sich Polystratos von Deirades, einer der kataloges, darauf be-
rufen, dass er eine liste von 9000 bürgern aufgestellt hätte. je zahl-
reicher die bürgerschaft wird, um so unbehilflicher wird der rat, der
ein viertel von ihr ist, nach abrechnung der jahrgänge 20--30. für
die intention des oligarchisch gesonnenen gesetzgebers muss sein ansatz
zu grunde gelegt werden, also 5000, von denen ein fünftel für die zehn
jahrgänge der jugend in abrechnung kommt. der rat würde also 1000
köpfe stark gewesen sein; oberbeamte, die aus dem rate genommen sind,
gibt es etwa 100. das zahlenverhältnis wird dem abstrakt denkenden
theoretiker wol vorgeschwebt haben. es ist nicht ungerecht, wenn
trotz diesem niedrigsten ansatze die kritik einem so starken rate die
fähigkeit abspricht, sachlich und ruhig die geschäfte zu führen. das
collegialische regiment ist an sich gar nicht verwerflich, und eine so
wenig geschäftserfahrene beamtenschaft wie die attische würde durch die
beratung mit einem senate ganz wie die römische erst recht leistungs-
fähig geworden sein. aber dann muss die beratung wirklich zu einem
ruhigen austausche und einer ausgleichung der meinungen führen können.
das ist unter 1000 leuten unmöglich. hier trat noch das erschwerende
hinzu, dass der regelmässige besuch der sitzungen durch alle mitglieder
erzwungen werden sollte, wovon man für den römischen senat weise
genug abgesehen hatte. dem gesetzgeber, wie oligarchisch er auch ge-
sonnen war, lag doch das hellenische prinzip allzusehr im blute, dass der
demos, das plenum der politisch berechtigten, selbst regieren müsste.
das repraesentativsystem, wie es Kleisthenes doch eingeführt hatte, wie
es in den 6000 richtern und dem rate der demokratie ausgebildet war,
hätte sich sehr wol zur grundlage einer auf die wirklich für die poli-
tische arbeit fähigen bürger berechneten verfassung machen lassen: die
einzelgemeinde hätte ein wirklich schöpferischer staatsmann zur grund-
lage der selbstverwaltung nehmen müssen. aber da steht der gesetz-
geber wieder nicht nur im banne seiner demokratischen gegenwart,
sondern noch mehr in dem der politischen theorie: haben doch weder
Platon noch Aristoteles von der centralisirung des staatslebens abzusehen
vermocht. dieser oligarch vollends abstrahirt von den phylen und demen
ganz und gar, ohne sie doch zu beseitigen. er hat die vier alten phylen
im kopfe: aber der geschlechterstaat existirt doch gar nicht mehr für
ihn. ihn hat Drakon mit der einführung eines turnus in der ausübung
der souveränetätsrechte und mit dem prinzip, dass jeder bürger ver-
pflichtet sein solle an dem regimente mitzutun und nötigenfalls dazu

II. 4. Πάτϱιος πολιτεία.
den anschluſs des heeres sich ergeben muſste, unterschieden wird, und
es kann sich Polystratos von Deirades, einer der καταλογῆς, darauf be-
rufen, daſs er eine liste von 9000 bürgern aufgestellt hätte. je zahl-
reicher die bürgerschaft wird, um so unbehilflicher wird der rat, der
ein viertel von ihr ist, nach abrechnung der jahrgänge 20—30. für
die intention des oligarchisch gesonnenen gesetzgebers muſs sein ansatz
zu grunde gelegt werden, also 5000, von denen ein fünftel für die zehn
jahrgänge der jugend in abrechnung kommt. der rat würde also 1000
köpfe stark gewesen sein; oberbeamte, die aus dem rate genommen sind,
gibt es etwa 100. das zahlenverhältnis wird dem abstrakt denkenden
theoretiker wol vorgeschwebt haben. es ist nicht ungerecht, wenn
trotz diesem niedrigsten ansatze die kritik einem so starken rate die
fähigkeit abspricht, sachlich und ruhig die geschäfte zu führen. das
collegialische regiment ist an sich gar nicht verwerflich, und eine so
wenig geschäftserfahrene beamtenschaft wie die attische würde durch die
beratung mit einem senate ganz wie die römische erst recht leistungs-
fähig geworden sein. aber dann muſs die beratung wirklich zu einem
ruhigen austausche und einer ausgleichung der meinungen führen können.
das ist unter 1000 leuten unmöglich. hier trat noch das erschwerende
hinzu, daſs der regelmäſsige besuch der sitzungen durch alle mitglieder
erzwungen werden sollte, wovon man für den römischen senat weise
genug abgesehen hatte. dem gesetzgeber, wie oligarchisch er auch ge-
sonnen war, lag doch das hellenische prinzip allzusehr im blute, daſs der
δῆμος, das plenum der politisch berechtigten, selbst regieren müſste.
das repraesentativsystem, wie es Kleisthenes doch eingeführt hatte, wie
es in den 6000 richtern und dem rate der demokratie ausgebildet war,
hätte sich sehr wol zur grundlage einer auf die wirklich für die poli-
tische arbeit fähigen bürger berechneten verfassung machen lassen: die
einzelgemeinde hätte ein wirklich schöpferischer staatsmann zur grund-
lage der selbstverwaltung nehmen müssen. aber da steht der gesetz-
geber wieder nicht nur im banne seiner demokratischen gegenwart,
sondern noch mehr in dem der politischen theorie: haben doch weder
Platon noch Aristoteles von der centralisirung des staatslebens abzusehen
vermocht. dieser oligarch vollends abstrahirt von den phylen und demen
ganz und gar, ohne sie doch zu beseitigen. er hat die vier alten phylen
im kopfe: aber der geschlechterstaat existirt doch gar nicht mehr für
ihn. ihn hat Drakon mit der einführung eines turnus in der ausübung
der souveränetätsrechte und mit dem prinzip, daſs jeder bürger ver-
pflichtet sein solle an dem regimente mitzutun und nötigenfalls dazu

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[122/0132] II. 4. Πάτϱιος πολιτεία. den anschluſs des heeres sich ergeben muſste, unterschieden wird, und es kann sich Polystratos von Deirades, einer der καταλογῆς, darauf be- rufen, daſs er eine liste von 9000 bürgern aufgestellt hätte. je zahl- reicher die bürgerschaft wird, um so unbehilflicher wird der rat, der ein viertel von ihr ist, nach abrechnung der jahrgänge 20—30. für die intention des oligarchisch gesonnenen gesetzgebers muſs sein ansatz zu grunde gelegt werden, also 5000, von denen ein fünftel für die zehn jahrgänge der jugend in abrechnung kommt. der rat würde also 1000 köpfe stark gewesen sein; oberbeamte, die aus dem rate genommen sind, gibt es etwa 100. das zahlenverhältnis wird dem abstrakt denkenden theoretiker wol vorgeschwebt haben. es ist nicht ungerecht, wenn trotz diesem niedrigsten ansatze die kritik einem so starken rate die fähigkeit abspricht, sachlich und ruhig die geschäfte zu führen. das collegialische regiment ist an sich gar nicht verwerflich, und eine so wenig geschäftserfahrene beamtenschaft wie die attische würde durch die beratung mit einem senate ganz wie die römische erst recht leistungs- fähig geworden sein. aber dann muſs die beratung wirklich zu einem ruhigen austausche und einer ausgleichung der meinungen führen können. das ist unter 1000 leuten unmöglich. hier trat noch das erschwerende hinzu, daſs der regelmäſsige besuch der sitzungen durch alle mitglieder erzwungen werden sollte, wovon man für den römischen senat weise genug abgesehen hatte. dem gesetzgeber, wie oligarchisch er auch ge- sonnen war, lag doch das hellenische prinzip allzusehr im blute, daſs der δῆμος, das plenum der politisch berechtigten, selbst regieren müſste. das repraesentativsystem, wie es Kleisthenes doch eingeführt hatte, wie es in den 6000 richtern und dem rate der demokratie ausgebildet war, hätte sich sehr wol zur grundlage einer auf die wirklich für die poli- tische arbeit fähigen bürger berechneten verfassung machen lassen: die einzelgemeinde hätte ein wirklich schöpferischer staatsmann zur grund- lage der selbstverwaltung nehmen müssen. aber da steht der gesetz- geber wieder nicht nur im banne seiner demokratischen gegenwart, sondern noch mehr in dem der politischen theorie: haben doch weder Platon noch Aristoteles von der centralisirung des staatslebens abzusehen vermocht. dieser oligarch vollends abstrahirt von den phylen und demen ganz und gar, ohne sie doch zu beseitigen. er hat die vier alten phylen im kopfe: aber der geschlechterstaat existirt doch gar nicht mehr für ihn. ihn hat Drakon mit der einführung eines turnus in der ausübung der souveränetätsrechte und mit dem prinzip, daſs jeder bürger ver- pflichtet sein solle an dem regimente mitzutun und nötigenfalls dazu

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/132>, abgerufen am 26.04.2024.