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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die schlussclausel 31, 3. die kritik des verfassungsentwurfes.
sichtlich auf schrauben gestellte schlusspassus (31, 3) "für die zukunft;
damit die 400 (der provisorische rat) unter die vier viertel verteilt wer-
den, sobald die städter mit den anderen den rat bilden können, sollen
sie die hundert kataloges verteilen". der sehnliche wunsch der bürger-
schaft (der 5000) ist, dass die verfassung in kraft trete, also ihr rat, ein
viertel der bürgerschaft, an die stelle des provisorischen rates der 400.
dazu ist die eigentliche vorbedingung der anschluss der bürger im heere
draussen, der anschluss der 'andern' an die 'städter' (oi en astei musste
jeder diese partei nennen und nennt sie Thukydides), damit beide par-
teien im rate sitzen können.19) auf diese vorbedingung hat die hier be-
schliessende bürgerschaft keinen einfluss; sie wagt auch nicht geradezu
zu verordnen 'das provisorium hört auf, sobald die mitbürger in Samos
zugetreten sind'. darum bestimmt sie etwas äusserliches, das eine di-
rective in jener richtung gibt. die 400 sollen immer schon auf die vier
viertel (die im prinzipe eingeführt, tatsächlich noch gar nicht existiren)
verteilt werden, damit sie später in dieselben eintreten können, wenn
die versöhnung das definitivum ermöglicht. darin liegt so schüchtern,
wie eine terrorisirte versammlung redet, ausgesprochen, dass keine zeit
später verloren gehn soll, und zugleich wird einem viertel des jetzigen
rates die sicherheit gewährt, sofort weiter zu fungiren. darin mochte
mancher ein mittel sehen, den übergang den jetzigen ratsherren an-
nehmbar zu machen.

Dieser letzte paragraph der provisorischen verordnung konnte erstKritik des
verfas-
sungsent-
wurfes.

hier erläutert werden, weil er das verständnis der verfassung voraus-
setzt. er zeigt auch am deutlichsten, dass sie ein totgeborenes kind
war. trotzdem ist ein werturteil über sie nur möglich, wenn wir sie
uns in tätigkeit vorstellen. ihr verfasser hatte mit klarer logik statt
des complicirten mechanismus der vielen behörden Athens ein einziges
organ für die regierung geschaffen, das rat und volk zugleich vorstellte,
und mit dem die beamten in einen festen zusammenhang gebracht waren.
alles hieng davon ab, wie dieses organ functionirte. dafür ist das wich-
tigste, wie stark dieser rat werden musste, und das muss der gesetzgeber
sich überlegt haben. die bürgerschaft im ganzen hat er auf mindestens
5000 geschätzt, sehr obenhin, denn wir hören nicht, dass zwischen den
5000 in der stadt und der notwendig sehr viel höheren zahl, die durch

19) Wenn man uns zugetraut hätte, wir wüssten, was bouleuein bedeutet,
würde man unsere ausnahmsweise von einem worte der erklärung begleitete text-
gestaltung, d. h. die überlieferung, verstanden haben, und dann auch die vorher-
gehende verfassung.

Die schluſsclausel 31, 3. die kritik des verfassungsentwurfes.
sichtlich auf schrauben gestellte schluſspassus (31, 3) “für die zukunft;
damit die 400 (der provisorische rat) unter die vier viertel verteilt wer-
den, sobald die städter mit den anderen den rat bilden können, sollen
sie die hundert καταλογῆς verteilen”. der sehnliche wunsch der bürger-
schaft (der 5000) ist, daſs die verfassung in kraft trete, also ihr rat, ein
viertel der bürgerschaft, an die stelle des provisorischen rates der 400.
dazu ist die eigentliche vorbedingung der anschluſs der bürger im heere
drauſsen, der anschluſs der ‘andern’ an die ‘städter’ (οἱ ἐν ἄστει muſste
jeder diese partei nennen und nennt sie Thukydides), damit beide par-
teien im rate sitzen können.19) auf diese vorbedingung hat die hier be-
schlieſsende bürgerschaft keinen einfluſs; sie wagt auch nicht geradezu
zu verordnen ‘das provisorium hört auf, sobald die mitbürger in Samos
zugetreten sind’. darum bestimmt sie etwas äuſserliches, das eine di-
rective in jener richtung gibt. die 400 sollen immer schon auf die vier
viertel (die im prinzipe eingeführt, tatsächlich noch gar nicht existiren)
verteilt werden, damit sie später in dieselben eintreten können, wenn
die versöhnung das definitivum ermöglicht. darin liegt so schüchtern,
wie eine terrorisirte versammlung redet, ausgesprochen, daſs keine zeit
später verloren gehn soll, und zugleich wird einem viertel des jetzigen
rates die sicherheit gewährt, sofort weiter zu fungiren. darin mochte
mancher ein mittel sehen, den übergang den jetzigen ratsherren an-
nehmbar zu machen.

Dieser letzte paragraph der provisorischen verordnung konnte erstKritik des
verfas-
sungsent-
wurfes.

hier erläutert werden, weil er das verständnis der verfassung voraus-
setzt. er zeigt auch am deutlichsten, daſs sie ein totgeborenes kind
war. trotzdem ist ein werturteil über sie nur möglich, wenn wir sie
uns in tätigkeit vorstellen. ihr verfasser hatte mit klarer logik statt
des complicirten mechanismus der vielen behörden Athens ein einziges
organ für die regierung geschaffen, das rat und volk zugleich vorstellte,
und mit dem die beamten in einen festen zusammenhang gebracht waren.
alles hieng davon ab, wie dieses organ functionirte. dafür ist das wich-
tigste, wie stark dieser rat werden muſste, und das muſs der gesetzgeber
sich überlegt haben. die bürgerschaft im ganzen hat er auf mindestens
5000 geschätzt, sehr obenhin, denn wir hören nicht, daſs zwischen den
5000 in der stadt und der notwendig sehr viel höheren zahl, die durch

19) Wenn man uns zugetraut hätte, wir wüſsten, was βουλεύειν bedeutet,
würde man unsere ausnahmsweise von einem worte der erklärung begleitete text-
gestaltung, d. h. die überlieferung, verstanden haben, und dann auch die vorher-
gehende verfassung.
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[121/0131] Die schluſsclausel 31, 3. die kritik des verfassungsentwurfes. sichtlich auf schrauben gestellte schluſspassus (31, 3) “für die zukunft; damit die 400 (der provisorische rat) unter die vier viertel verteilt wer- den, sobald die städter mit den anderen den rat bilden können, sollen sie die hundert καταλογῆς verteilen”. der sehnliche wunsch der bürger- schaft (der 5000) ist, daſs die verfassung in kraft trete, also ihr rat, ein viertel der bürgerschaft, an die stelle des provisorischen rates der 400. dazu ist die eigentliche vorbedingung der anschluſs der bürger im heere drauſsen, der anschluſs der ‘andern’ an die ‘städter’ (οἱ ἐν ἄστει muſste jeder diese partei nennen und nennt sie Thukydides), damit beide par- teien im rate sitzen können. 19) auf diese vorbedingung hat die hier be- schlieſsende bürgerschaft keinen einfluſs; sie wagt auch nicht geradezu zu verordnen ‘das provisorium hört auf, sobald die mitbürger in Samos zugetreten sind’. darum bestimmt sie etwas äuſserliches, das eine di- rective in jener richtung gibt. die 400 sollen immer schon auf die vier viertel (die im prinzipe eingeführt, tatsächlich noch gar nicht existiren) verteilt werden, damit sie später in dieselben eintreten können, wenn die versöhnung das definitivum ermöglicht. darin liegt so schüchtern, wie eine terrorisirte versammlung redet, ausgesprochen, daſs keine zeit später verloren gehn soll, und zugleich wird einem viertel des jetzigen rates die sicherheit gewährt, sofort weiter zu fungiren. darin mochte mancher ein mittel sehen, den übergang den jetzigen ratsherren an- nehmbar zu machen. Dieser letzte paragraph der provisorischen verordnung konnte erst hier erläutert werden, weil er das verständnis der verfassung voraus- setzt. er zeigt auch am deutlichsten, daſs sie ein totgeborenes kind war. trotzdem ist ein werturteil über sie nur möglich, wenn wir sie uns in tätigkeit vorstellen. ihr verfasser hatte mit klarer logik statt des complicirten mechanismus der vielen behörden Athens ein einziges organ für die regierung geschaffen, das rat und volk zugleich vorstellte, und mit dem die beamten in einen festen zusammenhang gebracht waren. alles hieng davon ab, wie dieses organ functionirte. dafür ist das wich- tigste, wie stark dieser rat werden muſste, und das muſs der gesetzgeber sich überlegt haben. die bürgerschaft im ganzen hat er auf mindestens 5000 geschätzt, sehr obenhin, denn wir hören nicht, daſs zwischen den 5000 in der stadt und der notwendig sehr viel höheren zahl, die durch Kritik des verfas- sungsent- wurfes. 19) Wenn man uns zugetraut hätte, wir wüſsten, was βουλεύειν bedeutet, würde man unsere ausnahmsweise von einem worte der erklärung begleitete text- gestaltung, d. h. die überlieferung, verstanden haben, und dann auch die vorher- gehende verfassung.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/131>, abgerufen am 26.04.2024.