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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Der krieg und seine folgen. die revolution von 411.
strömungen giengen gegeneinander an, während äusserlich die verfassung
und das Reich in vollster blüte standen. es war eigentlich allen un-
heimlich und unwohnlich geworden in dem stolzen hause. die poeten
des tages flüchteten sich nach Wolkenkukuksheim oder prophezeiten den
untergang, wie er Ilios und seinen besieger ereilt hatte. das volk wagte
dennoch, trotz den Hermokopiden7), die sicilische fahrt, machte aus den
strategen dictatoren und gab zugleich aus furcht vor der tyrannis dem
rate die dictatur: so stürzte es hals über kopf dem abgrund zu, den es
doch ahnte. das unheil von Syrakus übte sofort auf die verfassung den
rückschlag, dass der rat, das wichtigste demokratische organ, beschränkt
ward. zehn bejahrte erfahrene männer der wahl des volkes sollten die
vorberatung und zum teil wenigstens auch die finanzverwaltung über-
nehmen.8) an den sitz des übels, die unberechenbare und unzulängliche
volksversammlung, in der zumal in den kriegszeiten die besten kräfte
der bürgerschaft, die soldaten, fehlten, wagte niemand zu rühren. der
rat des jahres 412/11 war dem entsprechend eingeschüchtert und schwach
und zudem schwerlich sehr demokratisch gesonnen. der feldzug des
jahres 412 und der folgende winter steigerten die entmutigung. die
richtige erkenntnis, dass Athen mit seinen mitteln nach dem abfalle von
Chios Miletos Rhodos das Reich nicht mehr behaupten konnte, führte
nun endlich die bisher fast verborgenen männer an das ruder, die mit
einer verfassungsänderung ernst zu machen wagten.

Es war eine revolution, obwol zunächst äusserlich alles in den formenDie revolu-
tion von 411.

des rechtes blieb. die oligarchischen führer mochten von vorn herein
sehr weit gehende tendenzen haben: um eine majorität zu finden, be-

7) Ich glaube, dass sich ziemlich sicher zeigen lässt, was es mit dem hermen-
frevel auf sich gehabt hat. es war eine action, berechnet auf den religiösen sinn
der Athener, die abfahrt der flotte zu hemmen, und die anregung stammte von den
Korinthern, die sehr verständig damit ihrer tochterstadt Syrakus helfen wollten:
so berichtet Philochoros. dazu kam die feindschaft der adlichen jugend gegen den
abtrünnigen Alkibiades und die nicht unberechtigte furcht vor diesem zweiten Peisi-
stratos. aber auf eine verschwörung gegen die demokratie war es durchaus nicht
abgesehn.
8) Das folgt aus der Lysistrate des Aristophanes; wie die competenzen der
probulen gegen den rat abgegrenzt waren, ist durchaus unbekannt. dass dieser die
polizei behielt, zeigen die Thesmophoriazusen. gemeint waren die probulen wol
als eine ständige commission ähnlich den xuggraphes, und sicherlich waren sie den
oligarchen als institution gar nicht recht. aber die alten herren, Hagnon und So-
phokles, waren natürlich nicht radikal, sondern der patrios politeia geneigt, und
waren den energischen verschwörern so wenig gewachsen wie es der probulos der
Lysistrate ist.
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 8

Der krieg und seine folgen. die revolution von 411.
strömungen giengen gegeneinander an, während äuſserlich die verfassung
und das Reich in vollster blüte standen. es war eigentlich allen un-
heimlich und unwohnlich geworden in dem stolzen hause. die poeten
des tages flüchteten sich nach Wolkenkukuksheim oder prophezeiten den
untergang, wie er Ilios und seinen besieger ereilt hatte. das volk wagte
dennoch, trotz den Hermokopiden7), die sicilische fahrt, machte aus den
strategen dictatoren und gab zugleich aus furcht vor der tyrannis dem
rate die dictatur: so stürzte es hals über kopf dem abgrund zu, den es
doch ahnte. das unheil von Syrakus übte sofort auf die verfassung den
rückschlag, daſs der rat, das wichtigste demokratische organ, beschränkt
ward. zehn bejahrte erfahrene männer der wahl des volkes sollten die
vorberatung und zum teil wenigstens auch die finanzverwaltung über-
nehmen.8) an den sitz des übels, die unberechenbare und unzulängliche
volksversammlung, in der zumal in den kriegszeiten die besten kräfte
der bürgerschaft, die soldaten, fehlten, wagte niemand zu rühren. der
rat des jahres 412/11 war dem entsprechend eingeschüchtert und schwach
und zudem schwerlich sehr demokratisch gesonnen. der feldzug des
jahres 412 und der folgende winter steigerten die entmutigung. die
richtige erkenntnis, daſs Athen mit seinen mitteln nach dem abfalle von
Chios Miletos Rhodos das Reich nicht mehr behaupten konnte, führte
nun endlich die bisher fast verborgenen männer an das ruder, die mit
einer verfassungsänderung ernst zu machen wagten.

Es war eine revolution, obwol zunächst äuſserlich alles in den formenDie revolu-
tion von 411.

des rechtes blieb. die oligarchischen führer mochten von vorn herein
sehr weit gehende tendenzen haben: um eine majorität zu finden, be-

7) Ich glaube, daſs sich ziemlich sicher zeigen läſst, was es mit dem hermen-
frevel auf sich gehabt hat. es war eine action, berechnet auf den religiösen sinn
der Athener, die abfahrt der flotte zu hemmen, und die anregung stammte von den
Korinthern, die sehr verständig damit ihrer tochterstadt Syrakus helfen wollten:
so berichtet Philochoros. dazu kam die feindschaft der adlichen jugend gegen den
abtrünnigen Alkibiades und die nicht unberechtigte furcht vor diesem zweiten Peisi-
stratos. aber auf eine verschwörung gegen die demokratie war es durchaus nicht
abgesehn.
8) Das folgt aus der Lysistrate des Aristophanes; wie die competenzen der
probulen gegen den rat abgegrenzt waren, ist durchaus unbekannt. daſs dieser die
polizei behielt, zeigen die Thesmophoriazusen. gemeint waren die probulen wol
als eine ständige commission ähnlich den ξυγγϱαφῆς, und sicherlich waren sie den
oligarchen als institution gar nicht recht. aber die alten herren, Hagnon und So-
phokles, waren natürlich nicht radikal, sondern der πάτϱιος πολιτεία geneigt, und
waren den energischen verschwörern so wenig gewachsen wie es der probulos der
Lysistrate ist.
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[113/0123] Der krieg und seine folgen. die revolution von 411. strömungen giengen gegeneinander an, während äuſserlich die verfassung und das Reich in vollster blüte standen. es war eigentlich allen un- heimlich und unwohnlich geworden in dem stolzen hause. die poeten des tages flüchteten sich nach Wolkenkukuksheim oder prophezeiten den untergang, wie er Ilios und seinen besieger ereilt hatte. das volk wagte dennoch, trotz den Hermokopiden 7), die sicilische fahrt, machte aus den strategen dictatoren und gab zugleich aus furcht vor der tyrannis dem rate die dictatur: so stürzte es hals über kopf dem abgrund zu, den es doch ahnte. das unheil von Syrakus übte sofort auf die verfassung den rückschlag, daſs der rat, das wichtigste demokratische organ, beschränkt ward. zehn bejahrte erfahrene männer der wahl des volkes sollten die vorberatung und zum teil wenigstens auch die finanzverwaltung über- nehmen. 8) an den sitz des übels, die unberechenbare und unzulängliche volksversammlung, in der zumal in den kriegszeiten die besten kräfte der bürgerschaft, die soldaten, fehlten, wagte niemand zu rühren. der rat des jahres 412/11 war dem entsprechend eingeschüchtert und schwach und zudem schwerlich sehr demokratisch gesonnen. der feldzug des jahres 412 und der folgende winter steigerten die entmutigung. die richtige erkenntnis, daſs Athen mit seinen mitteln nach dem abfalle von Chios Miletos Rhodos das Reich nicht mehr behaupten konnte, führte nun endlich die bisher fast verborgenen männer an das ruder, die mit einer verfassungsänderung ernst zu machen wagten. Es war eine revolution, obwol zunächst äuſserlich alles in den formen des rechtes blieb. die oligarchischen führer mochten von vorn herein sehr weit gehende tendenzen haben: um eine majorität zu finden, be- Die revolu- tion von 411. 7) Ich glaube, daſs sich ziemlich sicher zeigen läſst, was es mit dem hermen- frevel auf sich gehabt hat. es war eine action, berechnet auf den religiösen sinn der Athener, die abfahrt der flotte zu hemmen, und die anregung stammte von den Korinthern, die sehr verständig damit ihrer tochterstadt Syrakus helfen wollten: so berichtet Philochoros. dazu kam die feindschaft der adlichen jugend gegen den abtrünnigen Alkibiades und die nicht unberechtigte furcht vor diesem zweiten Peisi- stratos. aber auf eine verschwörung gegen die demokratie war es durchaus nicht abgesehn. 8) Das folgt aus der Lysistrate des Aristophanes; wie die competenzen der probulen gegen den rat abgegrenzt waren, ist durchaus unbekannt. daſs dieser die polizei behielt, zeigen die Thesmophoriazusen. gemeint waren die probulen wol als eine ständige commission ähnlich den ξυγγϱαφῆς, und sicherlich waren sie den oligarchen als institution gar nicht recht. aber die alten herren, Hagnon und So- phokles, waren natürlich nicht radikal, sondern der πάτϱιος πολιτεία geneigt, und waren den energischen verschwörern so wenig gewachsen wie es der probulos der Lysistrate ist. v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 8

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/123>, abgerufen am 27.04.2024.