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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
nur der universelle denker bei etwas so kümmerlichem trotz beiden be-
harren können? von den subjectiven gründen ist genug geredet; die
wurzel seines theoretischen irrtums muss man in der tiefe suchen. dass
selbst dieser philosoph, der dem juristischen denken näher als ein anderer
Hellene gekommen ist, kein jurist war, erklärt schon vieles. er hat
darum den begriff des staatsrechtes gar nicht gefasst, geschweige eins
geschrieben. so sind ihm denn die concreten verfassungsformen in
seinem staate ganz nebensächlich gegenüber dem geiste, der in ihnen
leben soll. mehr noch hat es zu besagen, dass er kein historiker war.
wenn er selbst es für der mühe wert gehalten hätte, zu forschen, so würde
er in der lage gewesen sein, ein bild von der verfassung des Kleisthe-
nes oder auch nur der um 432 geltenden zu entwerfen. wir würden
lesen: damals gab es die und die ämter noch gar nicht, wurden die ge-
schäfte tatsächlich so und so geführt, und die und die misstände der
jetzigen demokratie vermieden. wir würden die ansätze zu einer aus-
dehnung des bürgerrechtes auf weitere kreise und die abstufungen der
rechte und pflichten im Reiche lesen: die gerechtigkeit des Aristoteles
würde dann auch zu anderen urteilen gelangt sein. so aber misachtet
er schlechthin die verhältnisse der nichtbürgerlichen bevölkerung in der
Politie, sieht also nur die staaten vereinzelt und folgt in betreff der
geschichte des fünften jahrhunderts tendenziösen urteilen und vorurteilen.
aber ganz besonders bedeutsam erscheint mir ein bestimmter punkt.
list man die Politie, so fällt am meisten auf, dass er die organische glie-
derung des attischen staates kaum einer beachtung würdigt. von den
resten des geschlechterstaates mag man absehen: ihm ist trotz allen
Politien dieser typus des althellenischen staates gar nicht als solcher
klar geworden; aber die phyle war doch der träger äusserst wichtiger
staatlicher functionen, und der demos war es noch viel mehr. die demoten
und demarchen hatten wahrlich mehr zu tun als die epheben zu prüfen,
das einzige was er von ihnen sagt. noch immer war der rat eine ver-
tretung der demen und die zehnstelligen collegien eine vertretung der
phylen. ohne diese gliederung hätte Attika, das doch weit mehr bürger
zählte als die idealstadt des Aristoteles, gar nicht verwaltet werden
können, und ohne diese vertretung würde entweder der regionalismus
oder der gegensatz zwischen stadt und land das parteileben Athens be-
stimmt haben. erst die kleisthenische gemeindeordnung hat Attika von
diesen übeln befreit, die es im sechsten jahrhundert schwer heimgesucht
hatten. es ist wahr, die entwickelung namentlich des vierten jahrhunderts
hatte die centralisirung so weit getrieben, dass die organe jener sinn-

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
nur der universelle denker bei etwas so kümmerlichem trotz beiden be-
harren können? von den subjectiven gründen ist genug geredet; die
wurzel seines theoretischen irrtums muſs man in der tiefe suchen. daſs
selbst dieser philosoph, der dem juristischen denken näher als ein anderer
Hellene gekommen ist, kein jurist war, erklärt schon vieles. er hat
darum den begriff des staatsrechtes gar nicht gefaſst, geschweige eins
geschrieben. so sind ihm denn die concreten verfassungsformen in
seinem staate ganz nebensächlich gegenüber dem geiste, der in ihnen
leben soll. mehr noch hat es zu besagen, daſs er kein historiker war.
wenn er selbst es für der mühe wert gehalten hätte, zu forschen, so würde
er in der lage gewesen sein, ein bild von der verfassung des Kleisthe-
nes oder auch nur der um 432 geltenden zu entwerfen. wir würden
lesen: damals gab es die und die ämter noch gar nicht, wurden die ge-
schäfte tatsächlich so und so geführt, und die und die misstände der
jetzigen demokratie vermieden. wir würden die ansätze zu einer aus-
dehnung des bürgerrechtes auf weitere kreise und die abstufungen der
rechte und pflichten im Reiche lesen: die gerechtigkeit des Aristoteles
würde dann auch zu anderen urteilen gelangt sein. so aber misachtet
er schlechthin die verhältnisse der nichtbürgerlichen bevölkerung in der
Politie, sieht also nur die staaten vereinzelt und folgt in betreff der
geschichte des fünften jahrhunderts tendenziösen urteilen und vorurteilen.
aber ganz besonders bedeutsam erscheint mir ein bestimmter punkt.
list man die Politie, so fällt am meisten auf, daſs er die organische glie-
derung des attischen staates kaum einer beachtung würdigt. von den
resten des geschlechterstaates mag man absehen: ihm ist trotz allen
Politien dieser typus des althellenischen staates gar nicht als solcher
klar geworden; aber die phyle war doch der träger äuſserst wichtiger
staatlicher functionen, und der demos war es noch viel mehr. die demoten
und demarchen hatten wahrlich mehr zu tun als die epheben zu prüfen,
das einzige was er von ihnen sagt. noch immer war der rat eine ver-
tretung der demen und die zehnstelligen collegien eine vertretung der
phylen. ohne diese gliederung hätte Attika, das doch weit mehr bürger
zählte als die idealstadt des Aristoteles, gar nicht verwaltet werden
können, und ohne diese vertretung würde entweder der regionalismus
oder der gegensatz zwischen stadt und land das parteileben Athens be-
stimmt haben. erst die kleisthenische gemeindeordnung hat Attika von
diesen übeln befreit, die es im sechsten jahrhundert schwer heimgesucht
hatten. es ist wahr, die entwickelung namentlich des vierten jahrhunderts
hatte die centralisirung so weit getrieben, daſs die organe jener sinn-

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[366/0380] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. nur der universelle denker bei etwas so kümmerlichem trotz beiden be- harren können? von den subjectiven gründen ist genug geredet; die wurzel seines theoretischen irrtums muſs man in der tiefe suchen. daſs selbst dieser philosoph, der dem juristischen denken näher als ein anderer Hellene gekommen ist, kein jurist war, erklärt schon vieles. er hat darum den begriff des staatsrechtes gar nicht gefaſst, geschweige eins geschrieben. so sind ihm denn die concreten verfassungsformen in seinem staate ganz nebensächlich gegenüber dem geiste, der in ihnen leben soll. mehr noch hat es zu besagen, daſs er kein historiker war. wenn er selbst es für der mühe wert gehalten hätte, zu forschen, so würde er in der lage gewesen sein, ein bild von der verfassung des Kleisthe- nes oder auch nur der um 432 geltenden zu entwerfen. wir würden lesen: damals gab es die und die ämter noch gar nicht, wurden die ge- schäfte tatsächlich so und so geführt, und die und die misstände der jetzigen demokratie vermieden. wir würden die ansätze zu einer aus- dehnung des bürgerrechtes auf weitere kreise und die abstufungen der rechte und pflichten im Reiche lesen: die gerechtigkeit des Aristoteles würde dann auch zu anderen urteilen gelangt sein. so aber misachtet er schlechthin die verhältnisse der nichtbürgerlichen bevölkerung in der Politie, sieht also nur die staaten vereinzelt und folgt in betreff der geschichte des fünften jahrhunderts tendenziösen urteilen und vorurteilen. aber ganz besonders bedeutsam erscheint mir ein bestimmter punkt. list man die Politie, so fällt am meisten auf, daſs er die organische glie- derung des attischen staates kaum einer beachtung würdigt. von den resten des geschlechterstaates mag man absehen: ihm ist trotz allen Politien dieser typus des althellenischen staates gar nicht als solcher klar geworden; aber die phyle war doch der träger äuſserst wichtiger staatlicher functionen, und der demos war es noch viel mehr. die demoten und demarchen hatten wahrlich mehr zu tun als die epheben zu prüfen, das einzige was er von ihnen sagt. noch immer war der rat eine ver- tretung der demen und die zehnstelligen collegien eine vertretung der phylen. ohne diese gliederung hätte Attika, das doch weit mehr bürger zählte als die idealstadt des Aristoteles, gar nicht verwaltet werden können, und ohne diese vertretung würde entweder der regionalismus oder der gegensatz zwischen stadt und land das parteileben Athens be- stimmt haben. erst die kleisthenische gemeindeordnung hat Attika von diesen übeln befreit, die es im sechsten jahrhundert schwer heimgesucht hatten. es ist wahr, die entwickelung namentlich des vierten jahrhunderts hatte die centralisirung so weit getrieben, daſs die organe jener sinn-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/380>, abgerufen am 27.04.2024.