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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
genommen hat, die für seine beurteilung der attischen geschichte und
verfassung massgebend geworden sind.

Bei aller abneigung gegen die demokratie hat er ein anderes poli-
tisches leben als das der athenischen demokratie überhaupt nicht gekannt.
in den lebensunfähigen nestern der Chalkidike oder an dem tyrannen-
hofe in Assos war keins, Lesbos war im zustande der revolution, und
in Makedonien hat Aristoteles nur das regiment über ein ethnos, ein
noch nicht zum politischen leben fortgeschrittenes volk gefunden. es
gehört eben die polis zur politeia, davon heisst sie. da nun aber
der mensch seiner natur nach zum politischen leben befähigt und be-
rufen ist, also zu einem vollkommenen leben der staat gehört, und zwar
ein staat, an dem jeder bürger tätigen anteil hat, so kann nur ein staats-
wesen, das diese voraussetzungen erfüllt, für Aristoteles überhaupt diesen
namen verdienen. und menschlicherweise konnte es nicht ausbleiben,
dass der staat, in dem er, wenn auch als fremder, gelebt hat, weil er
der einzige war, den er aus eigner anschauung kannte, mit seinen
prinzipien und seinen institutionen mehr oder weniger identisch mit
dem staate überhaupt für ihn werden musste. das gilt für den Stagi-
riten Aristoteles mindestens eben so sehr wie für den Athener Platon:
zu seiner politeia hat die politeia Athenaion noch mehr modell ge-
standen, als zu Platons nomoi die nomoi Athenaion. unbewusst steht
er im banne der attischen vorstellungen, ungleich stärker noch, als er
bewusst ein feind der attischen demokratie ist.43)

Athen
338--323.
Als er 335 nach Athen zurückkehrte, waren die würfel über die
grossmachtspolitik des Demosthenes gefallen. gerade während der jahre,
die wir dank den politischen reden dieses demagogen genau kennen,
war Aristoteles teils fern, teils im feindlichen lager gewesen[.] das letzte
was er noch kurz vor Platons tode erlebt hatte, war die annexion seiner
chalkidischen heimatsprovinz an Makedonien gewesen, die Demosthenes
mit aller macht einer bisher unerhörten redekunst abzuwenden versucht
hatte. das war das vorspiel zu dem letzten versuche gewesen, den Athen
mit der grossmachtspolitik machte, die Aristoteles schon vorher zu ver-
dammen gelernt hatte. jetzt war es mit dieser ein für alle mal vorbei.

43) Hug (Studien aus dem classischen altertum) hat die politische theorie des
Demosthenes dargestellt und mit recht die ähnlichkeit betont, die sich sehr oft mit
den lehren der aristotelischen Politik zeigt. aber das liegt nicht an einer geistes-
verwandtschaft beider, sondern es beweist nur, dass für sie und die anderen publi-
cisten der zeit eine gewisse summe von vorstellungen und gedanken durch die
öffentliche meinung über politisches gegeben war.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
genommen hat, die für seine beurteilung der attischen geschichte und
verfassung maſsgebend geworden sind.

Bei aller abneigung gegen die demokratie hat er ein anderes poli-
tisches leben als das der athenischen demokratie überhaupt nicht gekannt.
in den lebensunfähigen nestern der Chalkidike oder an dem tyrannen-
hofe in Assos war keins, Lesbos war im zustande der revolution, und
in Makedonien hat Aristoteles nur das regiment über ein ἔϑνος, ein
noch nicht zum politischen leben fortgeschrittenes volk gefunden. es
gehört eben die πόλις zur πολιτεία, davon heiſst sie. da nun aber
der mensch seiner natur nach zum politischen leben befähigt und be-
rufen ist, also zu einem vollkommenen leben der staat gehört, und zwar
ein staat, an dem jeder bürger tätigen anteil hat, so kann nur ein staats-
wesen, das diese voraussetzungen erfüllt, für Aristoteles überhaupt diesen
namen verdienen. und menschlicherweise konnte es nicht ausbleiben,
daſs der staat, in dem er, wenn auch als fremder, gelebt hat, weil er
der einzige war, den er aus eigner anschauung kannte, mit seinen
prinzipien und seinen institutionen mehr oder weniger identisch mit
dem staate überhaupt für ihn werden muſste. das gilt für den Stagi-
riten Aristoteles mindestens eben so sehr wie für den Athener Platon:
zu seiner πολιτεία hat die πολιτεία Ἀϑηναίων noch mehr modell ge-
standen, als zu Platons νόμοι die νόμοι Ἀϑηναίων. unbewuſst steht
er im banne der attischen vorstellungen, ungleich stärker noch, als er
bewuſst ein feind der attischen demokratie ist.43)

Athen
338—323.
Als er 335 nach Athen zurückkehrte, waren die würfel über die
groſsmachtspolitik des Demosthenes gefallen. gerade während der jahre,
die wir dank den politischen reden dieses demagogen genau kennen,
war Aristoteles teils fern, teils im feindlichen lager gewesen[.] das letzte
was er noch kurz vor Platons tode erlebt hatte, war die annexion seiner
chalkidischen heimatsprovinz an Makedonien gewesen, die Demosthenes
mit aller macht einer bisher unerhörten redekunst abzuwenden versucht
hatte. das war das vorspiel zu dem letzten versuche gewesen, den Athen
mit der groſsmachtspolitik machte, die Aristoteles schon vorher zu ver-
dammen gelernt hatte. jetzt war es mit dieser ein für alle mal vorbei.

43) Hug (Studien aus dem classischen altertum) hat die politische theorie des
Demosthenes dargestellt und mit recht die ähnlichkeit betont, die sich sehr oft mit
den lehren der aristotelischen Politik zeigt. aber das liegt nicht an einer geistes-
verwandtschaft beider, sondern es beweist nur, daſs für sie und die anderen publi-
cisten der zeit eine gewisse summe von vorstellungen und gedanken durch die
öffentliche meinung über politisches gegeben war.
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[348/0362] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. genommen hat, die für seine beurteilung der attischen geschichte und verfassung maſsgebend geworden sind. Bei aller abneigung gegen die demokratie hat er ein anderes poli- tisches leben als das der athenischen demokratie überhaupt nicht gekannt. in den lebensunfähigen nestern der Chalkidike oder an dem tyrannen- hofe in Assos war keins, Lesbos war im zustande der revolution, und in Makedonien hat Aristoteles nur das regiment über ein ἔϑνος, ein noch nicht zum politischen leben fortgeschrittenes volk gefunden. es gehört eben die πόλις zur πολιτεία, davon heiſst sie. da nun aber der mensch seiner natur nach zum politischen leben befähigt und be- rufen ist, also zu einem vollkommenen leben der staat gehört, und zwar ein staat, an dem jeder bürger tätigen anteil hat, so kann nur ein staats- wesen, das diese voraussetzungen erfüllt, für Aristoteles überhaupt diesen namen verdienen. und menschlicherweise konnte es nicht ausbleiben, daſs der staat, in dem er, wenn auch als fremder, gelebt hat, weil er der einzige war, den er aus eigner anschauung kannte, mit seinen prinzipien und seinen institutionen mehr oder weniger identisch mit dem staate überhaupt für ihn werden muſste. das gilt für den Stagi- riten Aristoteles mindestens eben so sehr wie für den Athener Platon: zu seiner πολιτεία hat die πολιτεία Ἀϑηναίων noch mehr modell ge- standen, als zu Platons νόμοι die νόμοι Ἀϑηναίων. unbewuſst steht er im banne der attischen vorstellungen, ungleich stärker noch, als er bewuſst ein feind der attischen demokratie ist. 43) Als er 335 nach Athen zurückkehrte, waren die würfel über die groſsmachtspolitik des Demosthenes gefallen. gerade während der jahre, die wir dank den politischen reden dieses demagogen genau kennen, war Aristoteles teils fern, teils im feindlichen lager gewesen. das letzte was er noch kurz vor Platons tode erlebt hatte, war die annexion seiner chalkidischen heimatsprovinz an Makedonien gewesen, die Demosthenes mit aller macht einer bisher unerhörten redekunst abzuwenden versucht hatte. das war das vorspiel zu dem letzten versuche gewesen, den Athen mit der groſsmachtspolitik machte, die Aristoteles schon vorher zu ver- dammen gelernt hatte. jetzt war es mit dieser ein für alle mal vorbei. Athen 338—323. 43) Hug (Studien aus dem classischen altertum) hat die politische theorie des Demosthenes dargestellt und mit recht die ähnlichkeit betont, die sich sehr oft mit den lehren der aristotelischen Politik zeigt. aber das liegt nicht an einer geistes- verwandtschaft beider, sondern es beweist nur, daſs für sie und die anderen publi- cisten der zeit eine gewisse summe von vorstellungen und gedanken durch die öffentliche meinung über politisches gegeben war.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/362>, abgerufen am 08.05.2024.