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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Gründung der schule. verhältnis zu Athen. Athen 370--50.
her, das ist dem menschen individuell eigen; aber der mensch steht in
der gemeinschaft, der polis, ist e anthropos auch polites. und weil
das ganze gegenüber dem teile proteron phusei ist, geht die politische,
die bürgertüchtigkeit, der ethischen, der individuellen charaktertüchtig-
keit voraus und ist ihr übergeordnet. die tüchtigkeit des bürgers, des
polites, ist bedingt durch die qualität der gemeinschaft, der polis,
der er angehört. wer also vollkommene menschen schaffen will, muss
vollkommene bürger schaffen, wer vollkommene bürger, einen voll-
kommenen staat. das sind zwingende schlüsse, die jeder, der die ethik
und politik griechisch lesen kann und bei griechischen worten die grie-
chische, nicht die abgeblasste philosophische bedeutung, in der wir sie
anwenden, hört, dem Aristoteles zugeben muss. dann erwuchs aber
für den lehrer der menschen und der nation die aufgabe, zum politi-
schen urteilen und handeln zu erziehen, ganz von selbst. das erbe
Platons schloss sie ebenfalls in sich. Aristoteles wirkt durch die poli-
tische theorie nicht um der theorie allein, sondern auch um der praxis
willen, so gewiss er die menschen nicht bloss das wesen der tugend er-
fassen, sondern tugendhaft handeln lehrt.

Er lehrt in Athen, der geistigen capitale von Hellas, der capitaleVerhältnis
zu Athen.

der demokratie. dorthin kehrt er 335 zurück, nach zwölfjähriger ab-
wesenheit, die ihn nirgend heimisch gemacht hat, an den ort, wo er
zwanzig jahre, vom zarten jünglingsalter bis zur mannesreife gelebt
hatte. es könnte gar nicht anders sein, als dass das politische leben,
das er in theorie und praxis hier vor augen gehabt hatte, das ihn nun
wieder umgab, von der grössten bedeutung für sein eigenes urteil ge-
worden wäre. dass er als fremder niemals auch nur in die ver-
suchung geführt werden konnte, in dieses leben einzugreifen, eine ver-
suchung, der Platon nur mit selbstüberwindung stand gehalten hat,
konnte ihm wenigstens subjectiv die zuversicht gewähren, dass er ganz
unbefangen urteilen könnte.

Das Athen der sechziger und funfziger jahre hat ihm zuerst eineAthen
370--50.

ganz erbärmliche ideenlose und kraftlose staatsverwaltung gezeigt. der
achtungswerte aufschwung, den Athen bald nach der schande des königs-
friedens nimmt, und dessen litterarischer ausdruck der panegyrikos des Iso-
krates ist, hatte nur etwa bis zur schlacht von Leuktra vorgehalten. als
Epaminondas einen thebanischen staat bildet und bald die peloponne-
sische machtstellung Spartas zertrümmert, verlor die athenische politik
gänzlich die bussole. wer eingeschworen war auf den glauben an die
landmacht Sparta und die seemacht Athen, wie Isokrates, und über die

Gründung der schule. verhältnis zu Athen. Athen 370—50.
her, das ist dem menschen individuell eigen; aber der mensch steht in
der gemeinschaft, der πόλις, ist ᾗ ἄνϑϱωπος auch πολίτης. und weil
das ganze gegenüber dem teile πϱότεϱον φύσει ist, geht die politische,
die bürgertüchtigkeit, der ethischen, der individuellen charaktertüchtig-
keit voraus und ist ihr übergeordnet. die tüchtigkeit des bürgers, des
πολίτης, ist bedingt durch die qualität der gemeinschaft, der πόλις,
der er angehört. wer also vollkommene menschen schaffen will, muſs
vollkommene bürger schaffen, wer vollkommene bürger, einen voll-
kommenen staat. das sind zwingende schlüsse, die jeder, der die ethik
und politik griechisch lesen kann und bei griechischen worten die grie-
chische, nicht die abgeblaſste philosophische bedeutung, in der wir sie
anwenden, hört, dem Aristoteles zugeben muſs. dann erwuchs aber
für den lehrer der menschen und der nation die aufgabe, zum politi-
schen urteilen und handeln zu erziehen, ganz von selbst. das erbe
Platons schloſs sie ebenfalls in sich. Aristoteles wirkt durch die poli-
tische theorie nicht um der theorie allein, sondern auch um der praxis
willen, so gewiſs er die menschen nicht bloſs das wesen der tugend er-
fassen, sondern tugendhaft handeln lehrt.

Er lehrt in Athen, der geistigen capitale von Hellas, der capitaleVerhältnis
zu Athen.

der demokratie. dorthin kehrt er 335 zurück, nach zwölfjähriger ab-
wesenheit, die ihn nirgend heimisch gemacht hat, an den ort, wo er
zwanzig jahre, vom zarten jünglingsalter bis zur mannesreife gelebt
hatte. es könnte gar nicht anders sein, als daſs das politische leben,
das er in theorie und praxis hier vor augen gehabt hatte, das ihn nun
wieder umgab, von der gröſsten bedeutung für sein eigenes urteil ge-
worden wäre. daſs er als fremder niemals auch nur in die ver-
suchung geführt werden konnte, in dieses leben einzugreifen, eine ver-
suchung, der Platon nur mit selbstüberwindung stand gehalten hat,
konnte ihm wenigstens subjectiv die zuversicht gewähren, daſs er ganz
unbefangen urteilen könnte.

Das Athen der sechziger und funfziger jahre hat ihm zuerst eineAthen
370—50.

ganz erbärmliche ideenlose und kraftlose staatsverwaltung gezeigt. der
achtungswerte aufschwung, den Athen bald nach der schande des königs-
friedens nimmt, und dessen litterarischer ausdruck der panegyrikos des Iso-
krates ist, hatte nur etwa bis zur schlacht von Leuktra vorgehalten. als
Epaminondas einen thebanischen staat bildet und bald die peloponne-
sische machtstellung Spartas zertrümmert, verlor die athenische politik
gänzlich die bussole. wer eingeschworen war auf den glauben an die
landmacht Sparta und die seemacht Athen, wie Isokrates, und über die

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[343/0357] Gründung der schule. verhältnis zu Athen. Athen 370—50. her, das ist dem menschen individuell eigen; aber der mensch steht in der gemeinschaft, der πόλις, ist ᾗ ἄνϑϱωπος auch πολίτης. und weil das ganze gegenüber dem teile πϱότεϱον φύσει ist, geht die politische, die bürgertüchtigkeit, der ethischen, der individuellen charaktertüchtig- keit voraus und ist ihr übergeordnet. die tüchtigkeit des bürgers, des πολίτης, ist bedingt durch die qualität der gemeinschaft, der πόλις, der er angehört. wer also vollkommene menschen schaffen will, muſs vollkommene bürger schaffen, wer vollkommene bürger, einen voll- kommenen staat. das sind zwingende schlüsse, die jeder, der die ethik und politik griechisch lesen kann und bei griechischen worten die grie- chische, nicht die abgeblaſste philosophische bedeutung, in der wir sie anwenden, hört, dem Aristoteles zugeben muſs. dann erwuchs aber für den lehrer der menschen und der nation die aufgabe, zum politi- schen urteilen und handeln zu erziehen, ganz von selbst. das erbe Platons schloſs sie ebenfalls in sich. Aristoteles wirkt durch die poli- tische theorie nicht um der theorie allein, sondern auch um der praxis willen, so gewiſs er die menschen nicht bloſs das wesen der tugend er- fassen, sondern tugendhaft handeln lehrt. Er lehrt in Athen, der geistigen capitale von Hellas, der capitale der demokratie. dorthin kehrt er 335 zurück, nach zwölfjähriger ab- wesenheit, die ihn nirgend heimisch gemacht hat, an den ort, wo er zwanzig jahre, vom zarten jünglingsalter bis zur mannesreife gelebt hatte. es könnte gar nicht anders sein, als daſs das politische leben, das er in theorie und praxis hier vor augen gehabt hatte, das ihn nun wieder umgab, von der gröſsten bedeutung für sein eigenes urteil ge- worden wäre. daſs er als fremder niemals auch nur in die ver- suchung geführt werden konnte, in dieses leben einzugreifen, eine ver- suchung, der Platon nur mit selbstüberwindung stand gehalten hat, konnte ihm wenigstens subjectiv die zuversicht gewähren, daſs er ganz unbefangen urteilen könnte. Verhältnis zu Athen. Das Athen der sechziger und funfziger jahre hat ihm zuerst eine ganz erbärmliche ideenlose und kraftlose staatsverwaltung gezeigt. der achtungswerte aufschwung, den Athen bald nach der schande des königs- friedens nimmt, und dessen litterarischer ausdruck der panegyrikos des Iso- krates ist, hatte nur etwa bis zur schlacht von Leuktra vorgehalten. als Epaminondas einen thebanischen staat bildet und bald die peloponne- sische machtstellung Spartas zertrümmert, verlor die athenische politik gänzlich die bussole. wer eingeschworen war auf den glauben an die landmacht Sparta und die seemacht Athen, wie Isokrates, und über die Athen 370—50.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/357>, abgerufen am 26.04.2024.