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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die politische litteratur Athens.
gedanken und bilder hineingefunden hat, wird, zumal wenn er die kritik
der geschriebenen verfassung im Politikos und die skizze einer allgemeinen
culturgeschichte in den Gesetzen dazu nimmt, nicht im zweifel sein, wo
die tiefste offenbarung über die ethisch-politischen probleme, nicht sowol
der athenischen als der menschengeschichte überhaupt, zu finden ist.

Aristoteles hat diese offenbarung noch aus des meisters munde
vernommen. schon die erste seite seiner Politik setzt sich mit Platons
Politikos auseinander, und wo er in der Politie über Perikles spricht, hat
er den Gorgias im gedächtnis. aber die Politik zeigt auch, wie er in
seiner eigenen speculation immer weiter von Platon abgeführt worden
war. darauf hatte das leben mindestens eben so stark hingewirkt, das
ihn erst in ganz andere kreise, dann in das demosthenische Athen führte.
deshalb hat er auch das Athen des Sokrates nicht mehr mit den augen
Platons angesehn. woher ihm die schrift des Theramenes zugekommen
ist, können wir nicht ahnen: die platonische schule hat sie ihm jeden-
falls nicht geliefert. vielleicht war er selbst überrascht, als er hier
ansichten vertreten fand, die seiner vorliebe für die politeia nahe zu
stehen schienen. jedenfalls hat er sich etwas darauf zu gute getan, den
mann zu rehabilitiren, me parergos apophainomenos, wie er sich selbst
das zeugnis gibt. wir werden ihn darum nicht loben, und werden weder
ihm noch dem Theramenes folgen. aber trotz alle dem bleiben diese
capitel das fesselndste stück des aristotelischen buches, und Theramenes,
wenn er es denn war, dankt dem Aristoteles was besser ist als eine
rehabilitation, dass er selbst seine sache vor uns führen kann.


Die politische litteratur Athens.
gedanken und bilder hineingefunden hat, wird, zumal wenn er die kritik
der geschriebenen verfassung im Politikos und die skizze einer allgemeinen
culturgeschichte in den Gesetzen dazu nimmt, nicht im zweifel sein, wo
die tiefste offenbarung über die ethisch-politischen probleme, nicht sowol
der athenischen als der menschengeschichte überhaupt, zu finden ist.

Aristoteles hat diese offenbarung noch aus des meisters munde
vernommen. schon die erste seite seiner Politik setzt sich mit Platons
Politikos auseinander, und wo er in der Politie über Perikles spricht, hat
er den Gorgias im gedächtnis. aber die Politik zeigt auch, wie er in
seiner eigenen speculation immer weiter von Platon abgeführt worden
war. darauf hatte das leben mindestens eben so stark hingewirkt, das
ihn erst in ganz andere kreise, dann in das demosthenische Athen führte.
deshalb hat er auch das Athen des Sokrates nicht mehr mit den augen
Platons angesehn. woher ihm die schrift des Theramenes zugekommen
ist, können wir nicht ahnen: die platonische schule hat sie ihm jeden-
falls nicht geliefert. vielleicht war er selbst überrascht, als er hier
ansichten vertreten fand, die seiner vorliebe für die πολιτεία nahe zu
stehen schienen. jedenfalls hat er sich etwas darauf zu gute getan, den
mann zu rehabilitiren, μὴ παϱέϱγως ἀποφαινόμενος, wie er sich selbst
das zeugnis gibt. wir werden ihn darum nicht loben, und werden weder
ihm noch dem Theramenes folgen. aber trotz alle dem bleiben diese
capitel das fesselndste stück des aristotelischen buches, und Theramenes,
wenn er es denn war, dankt dem Aristoteles was besser ist als eine
rehabilitation, daſs er selbst seine sache vor uns führen kann.


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[185/0199] Die politische litteratur Athens. gedanken und bilder hineingefunden hat, wird, zumal wenn er die kritik der geschriebenen verfassung im Politikos und die skizze einer allgemeinen culturgeschichte in den Gesetzen dazu nimmt, nicht im zweifel sein, wo die tiefste offenbarung über die ethisch-politischen probleme, nicht sowol der athenischen als der menschengeschichte überhaupt, zu finden ist. Aristoteles hat diese offenbarung noch aus des meisters munde vernommen. schon die erste seite seiner Politik setzt sich mit Platons Politikos auseinander, und wo er in der Politie über Perikles spricht, hat er den Gorgias im gedächtnis. aber die Politik zeigt auch, wie er in seiner eigenen speculation immer weiter von Platon abgeführt worden war. darauf hatte das leben mindestens eben so stark hingewirkt, das ihn erst in ganz andere kreise, dann in das demosthenische Athen führte. deshalb hat er auch das Athen des Sokrates nicht mehr mit den augen Platons angesehn. woher ihm die schrift des Theramenes zugekommen ist, können wir nicht ahnen: die platonische schule hat sie ihm jeden- falls nicht geliefert. vielleicht war er selbst überrascht, als er hier ansichten vertreten fand, die seiner vorliebe für die πολιτεία nahe zu stehen schienen. jedenfalls hat er sich etwas darauf zu gute getan, den mann zu rehabilitiren, μὴ παϱέϱγως ἀποφαινόμενος, wie er sich selbst das zeugnis gibt. wir werden ihn darum nicht loben, und werden weder ihm noch dem Theramenes folgen. aber trotz alle dem bleiben diese capitel das fesselndste stück des aristotelischen buches, und Theramenes, wenn er es denn war, dankt dem Aristoteles was besser ist als eine rehabilitation, daſs er selbst seine sache vor uns führen kann.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/199>, abgerufen am 26.04.2024.