Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
schriftstellerei der Athener unterschätzen lassen. er hat auf die technik,
wesentlich der gerichtsrede, den hauptwert gelegt, und so sehen wir die
wurzel der beredsamkeit in dem handbuche des Teisias von Syrakus. in
wahrheit ist die hellenische prosa die tochter der attischen prosa, und diese
ist im rathause und auf der pnyx entstanden; und die hellenische sprache
ist die tochter der attischen schriftsprache, die in den kanzleien Athens
entstanden ist. die sophistik Ioniens hat wol ammendienste getan: aber
das kind ist aus dem attischen boden entstanden, und die Jungfrau der
burg, die herrin des Reiches, ist seine pflegerin. dass noch heute die
Hellenen von Trapezunt bis Bova, von Odessa bis Kairo eine sprache
reden und als ein volk sich fühlen, das verdanken sie den beiden grossen
versuchen zu der politischen einigung dieses volkes, dem reiche Athenas
und dem reiche des Alexandros; beide hat Aristoteles nicht zu würdigen
vermocht.

Zu den zeiten, da Perikles ein alter mann war, ist die attische
sprache für die schriftstellerei geschmeidig gemacht, und nun beginnen die
leute sich ihrer für politische schriftstellerei zu bedienen, natürlich auch
für andere, wie Meton für seine astronomie, aber die politischen inter-
essen überwiegen alles andere. Perikles selbst wirkte schon durch die
rede mit bewusster kunst; es mag sich mancher als hilfe des gedächt-
nisses manches von seiner leichenrede für die gefallenen von Samos auf-
gezeichnet haben: er selbst publicirte noch nicht. die blühende ionische
sophistik, die darauf anspruch erhob eine allerweltskunst zu sein und
gerade für das praktische leben tüchtig zu machen, griff auch in das
politische gebiet über, lehrte auch die praktische beredsamkeit, und die
Athener, die bei den sophisten lernten, folgten in vielem zunächst ihren
meistern. wenn Damon seine musik und metrik in die form einer rede
über jugenderziehung kleidete, so ist die berührung mit sophistischen
vorträgen unverkennbar; es ist auch wahrscheinlich, dass Antiphon zu-
nächst musterstücke über fictive fälle publicirt hat71) wie Thrasymachos.

71) Dahin rechne ich nicht nur die tetralogien und "vorreden und schlüsse".
die titel paranomon kategoria, kata prutoneos (ehe die graphe proedrike bestand,
muss es eine prutanike gegeben haben: man denke an den prutanis, der die ver-
urteilung des Miltiades verhinderte), peri andrapodismou, peri tes eis ton eleu-
theron paida ubreos sind gleichartig und entbehren der hindeutung auf den con-
creten fall. dabei will ich gar nicht leugnen, dass öfters einer zu grunde gelegen
hat, wie wir vielleicht nur von einem epitropikos hören würden, wenn nicht ihre
mehrzahl die distinction Timokratei, Kallistrato gefordert hätte. aber als
musterstücke werden auch diese publicirt sein, und so beurteile ich auch die erste

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
schriftstellerei der Athener unterschätzen lassen. er hat auf die technik,
wesentlich der gerichtsrede, den hauptwert gelegt, und so sehen wir die
wurzel der beredsamkeit in dem handbuche des Teisias von Syrakus. in
wahrheit ist die hellenische prosa die tochter der attischen prosa, und diese
ist im rathause und auf der pnyx entstanden; und die hellenische sprache
ist die tochter der attischen schriftsprache, die in den kanzleien Athens
entstanden ist. die sophistik Ioniens hat wol ammendienste getan: aber
das kind ist aus dem attischen boden entstanden, und die Jungfrau der
burg, die herrin des Reiches, ist seine pflegerin. daſs noch heute die
Hellenen von Trapezunt bis Bova, von Odessa bis Kairo eine sprache
reden und als ein volk sich fühlen, das verdanken sie den beiden groſsen
versuchen zu der politischen einigung dieses volkes, dem reiche Athenas
und dem reiche des Alexandros; beide hat Aristoteles nicht zu würdigen
vermocht.

Zu den zeiten, da Perikles ein alter mann war, ist die attische
sprache für die schriftstellerei geschmeidig gemacht, und nun beginnen die
leute sich ihrer für politische schriftstellerei zu bedienen, natürlich auch
für andere, wie Meton für seine astronomie, aber die politischen inter-
essen überwiegen alles andere. Perikles selbst wirkte schon durch die
rede mit bewuſster kunst; es mag sich mancher als hilfe des gedächt-
nisses manches von seiner leichenrede für die gefallenen von Samos auf-
gezeichnet haben: er selbst publicirte noch nicht. die blühende ionische
sophistik, die darauf anspruch erhob eine allerweltskunst zu sein und
gerade für das praktische leben tüchtig zu machen, griff auch in das
politische gebiet über, lehrte auch die praktische beredsamkeit, und die
Athener, die bei den sophisten lernten, folgten in vielem zunächst ihren
meistern. wenn Damon seine musik und metrik in die form einer rede
über jugenderziehung kleidete, so ist die berührung mit sophistischen
vorträgen unverkennbar; es ist auch wahrscheinlich, daſs Antiphon zu-
nächst musterstücke über fictive fälle publicirt hat71) wie Thrasymachos.

71) Dahin rechne ich nicht nur die tetralogien und “vorreden und schlüſse”.
die titel παϱανόμων κατηγοϱία, κατὰ πϱυτόνεως (ehe die γϱαφὴ πϱοεδϱική bestand,
muſs es eine πϱυτανική gegeben haben: man denke an den πϱύτανις, der die ver-
urteilung des Miltiades verhinderte), πεϱὶ ἀνδϱαποδισμοῦ, πεϱὶ τῆς εἰς τὸν ἐλεύ-
ϑεϱον παῖδα ὕβϱεως sind gleichartig und entbehren der hindeutung auf den con-
creten fall. dabei will ich gar nicht leugnen, daſs öfters einer zu grunde gelegen
hat, wie wir vielleicht nur von einem ἐπιτϱοπικός hören würden, wenn nicht ihre
mehrzahl die distinction Τιμοκϱάτει, Καλλιστϱάτῳ gefordert hätte. aber als
musterstücke werden auch diese publicirt sein, und so beurteile ich auch die erste
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0184" n="170"/><fw place="top" type="header">I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.</fw><lb/>
schriftstellerei der Athener unterschätzen lassen. er hat auf die technik,<lb/>
wesentlich der gerichtsrede, den hauptwert gelegt, und so sehen wir die<lb/>
wurzel der beredsamkeit in dem handbuche des Teisias von Syrakus. in<lb/>
wahrheit ist die hellenische prosa die tochter der attischen prosa, und diese<lb/>
ist im rathause und auf der pnyx entstanden; und die hellenische sprache<lb/>
ist die tochter der attischen schriftsprache, die in den kanzleien Athens<lb/>
entstanden ist. die sophistik Ioniens hat wol ammendienste getan: aber<lb/>
das kind ist aus dem attischen boden entstanden, und die Jungfrau der<lb/>
burg, die herrin des Reiches, ist seine pflegerin. da&#x017F;s noch heute die<lb/>
Hellenen von Trapezunt bis Bova, von Odessa bis Kairo eine sprache<lb/>
reden und als ein volk sich fühlen, das verdanken sie den beiden gro&#x017F;sen<lb/>
versuchen zu der politischen einigung dieses volkes, dem reiche Athenas<lb/>
und dem reiche des Alexandros; beide hat Aristoteles nicht zu würdigen<lb/>
vermocht.</p><lb/>
          <p>Zu den zeiten, da Perikles ein alter mann war, ist die attische<lb/>
sprache für die schriftstellerei geschmeidig gemacht, und nun beginnen die<lb/>
leute sich ihrer für politische schriftstellerei zu bedienen, natürlich auch<lb/>
für andere, wie Meton für seine astronomie, aber die politischen inter-<lb/>
essen überwiegen alles andere. Perikles selbst wirkte schon durch die<lb/>
rede mit bewu&#x017F;ster kunst; es mag sich mancher als hilfe des gedächt-<lb/>
nisses manches von seiner leichenrede für die gefallenen von Samos auf-<lb/>
gezeichnet haben: er selbst publicirte noch nicht. die blühende ionische<lb/>
sophistik, die darauf anspruch erhob eine allerweltskunst zu sein und<lb/>
gerade für das praktische leben tüchtig zu machen, griff auch in das<lb/>
politische gebiet über, lehrte auch die praktische beredsamkeit, und die<lb/>
Athener, die bei den sophisten lernten, folgten in vielem zunächst ihren<lb/>
meistern. wenn Damon seine musik und metrik in die form einer rede<lb/>
über jugenderziehung kleidete, so ist die berührung mit sophistischen<lb/>
vorträgen unverkennbar; es ist auch wahrscheinlich, da&#x017F;s Antiphon zu-<lb/>
nächst musterstücke über fictive fälle publicirt hat<note xml:id="note-0184" next="#note-0185" place="foot" n="71)">Dahin rechne ich nicht nur die tetralogien und &#x201C;vorreden und schlü&#x017F;se&#x201D;.<lb/>
die titel &#x03C0;&#x03B1;&#x03F1;&#x03B1;&#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03C9;&#x03BD; &#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B7;&#x03B3;&#x03BF;&#x03F1;&#x03AF;&#x03B1;, &#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x1F70; &#x03C0;&#x03F1;&#x03C5;&#x03C4;&#x03CC;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C9;&#x03C2; (ehe die &#x03B3;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C6;&#x1F74; &#x03C0;&#x03F1;&#x03BF;&#x03B5;&#x03B4;&#x03F1;&#x03B9;&#x03BA;&#x03AE; bestand,<lb/>
mu&#x017F;s es eine &#x03C0;&#x03F1;&#x03C5;&#x03C4;&#x03B1;&#x03BD;&#x03B9;&#x03BA;&#x03AE; gegeben haben: man denke an den &#x03C0;&#x03F1;&#x03CD;&#x03C4;&#x03B1;&#x03BD;&#x03B9;&#x03C2;, der die ver-<lb/>
urteilung des Miltiades verhinderte), &#x03C0;&#x03B5;&#x03F1;&#x1F76; &#x1F00;&#x03BD;&#x03B4;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C0;&#x03BF;&#x03B4;&#x03B9;&#x03C3;&#x03BC;&#x03BF;&#x1FE6;, &#x03C0;&#x03B5;&#x03F1;&#x1F76; &#x03C4;&#x1FC6;&#x03C2; &#x03B5;&#x1F30;&#x03C2; &#x03C4;&#x1F78;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BB;&#x03B5;&#x03CD;-<lb/>
&#x03D1;&#x03B5;&#x03F1;&#x03BF;&#x03BD; &#x03C0;&#x03B1;&#x1FD6;&#x03B4;&#x03B1; &#x1F55;&#x03B2;&#x03F1;&#x03B5;&#x03C9;&#x03C2; sind gleichartig und entbehren der hindeutung auf den con-<lb/>
creten fall. dabei will ich gar nicht leugnen, da&#x017F;s öfters einer zu grunde gelegen<lb/>
hat, wie wir vielleicht nur von einem &#x1F10;&#x03C0;&#x03B9;&#x03C4;&#x03F1;&#x03BF;&#x03C0;&#x03B9;&#x03BA;&#x03CC;&#x03C2; hören würden, wenn nicht ihre<lb/>
mehrzahl die distinction &#x03A4;&#x03B9;&#x03BC;&#x03BF;&#x03BA;&#x03F1;&#x03AC;&#x03C4;&#x03B5;&#x03B9;, &#x039A;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BB;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x03F1;&#x03AC;&#x03C4;&#x1FF3; gefordert hätte. aber als<lb/>
musterstücke werden auch diese publicirt sein, und so beurteile ich auch die erste</note> wie Thrasymachos.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0184] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. schriftstellerei der Athener unterschätzen lassen. er hat auf die technik, wesentlich der gerichtsrede, den hauptwert gelegt, und so sehen wir die wurzel der beredsamkeit in dem handbuche des Teisias von Syrakus. in wahrheit ist die hellenische prosa die tochter der attischen prosa, und diese ist im rathause und auf der pnyx entstanden; und die hellenische sprache ist die tochter der attischen schriftsprache, die in den kanzleien Athens entstanden ist. die sophistik Ioniens hat wol ammendienste getan: aber das kind ist aus dem attischen boden entstanden, und die Jungfrau der burg, die herrin des Reiches, ist seine pflegerin. daſs noch heute die Hellenen von Trapezunt bis Bova, von Odessa bis Kairo eine sprache reden und als ein volk sich fühlen, das verdanken sie den beiden groſsen versuchen zu der politischen einigung dieses volkes, dem reiche Athenas und dem reiche des Alexandros; beide hat Aristoteles nicht zu würdigen vermocht. Zu den zeiten, da Perikles ein alter mann war, ist die attische sprache für die schriftstellerei geschmeidig gemacht, und nun beginnen die leute sich ihrer für politische schriftstellerei zu bedienen, natürlich auch für andere, wie Meton für seine astronomie, aber die politischen inter- essen überwiegen alles andere. Perikles selbst wirkte schon durch die rede mit bewuſster kunst; es mag sich mancher als hilfe des gedächt- nisses manches von seiner leichenrede für die gefallenen von Samos auf- gezeichnet haben: er selbst publicirte noch nicht. die blühende ionische sophistik, die darauf anspruch erhob eine allerweltskunst zu sein und gerade für das praktische leben tüchtig zu machen, griff auch in das politische gebiet über, lehrte auch die praktische beredsamkeit, und die Athener, die bei den sophisten lernten, folgten in vielem zunächst ihren meistern. wenn Damon seine musik und metrik in die form einer rede über jugenderziehung kleidete, so ist die berührung mit sophistischen vorträgen unverkennbar; es ist auch wahrscheinlich, daſs Antiphon zu- nächst musterstücke über fictive fälle publicirt hat 71) wie Thrasymachos. 71) Dahin rechne ich nicht nur die tetralogien und “vorreden und schlüſse”. die titel παϱανόμων κατηγοϱία, κατὰ πϱυτόνεως (ehe die γϱαφὴ πϱοεδϱική bestand, muſs es eine πϱυτανική gegeben haben: man denke an den πϱύτανις, der die ver- urteilung des Miltiades verhinderte), πεϱὶ ἀνδϱαποδισμοῦ, πεϱὶ τῆς εἰς τὸν ἐλεύ- ϑεϱον παῖδα ὕβϱεως sind gleichartig und entbehren der hindeutung auf den con- creten fall. dabei will ich gar nicht leugnen, daſs öfters einer zu grunde gelegen hat, wie wir vielleicht nur von einem ἐπιτϱοπικός hören würden, wenn nicht ihre mehrzahl die distinction Τιμοκϱάτει, Καλλιστϱάτῳ gefordert hätte. aber als musterstücke werden auch diese publicirt sein, und so beurteile ich auch die erste

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/184
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/184>, abgerufen am 27.04.2024.